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Teil 2

Dr. Derbolowsky:
Liebe Mitdiskutanten, ich möchte ausdrücklich würdigen, daß Sie sich in Ihren Äußerungen sehr diszipliniert an unsere Spielregeln halten. Das ist keineswegs selbstverständlich! Das hat unserem Gespräch viel Lebendigkeit ermöglicht, und ich hoffe, daß es so bleibt. Ich greife jetzt die Überlegung von Dr. Eberl auf, mit der wir in die Pause gegangen sind, nämlich, ob Medizin überhaupt unter dem Aspekt Kunst oder Naturwissenschaft gesehen werden sollte und nicht ganz anders zu diskutieren wäre. Wenn man diese herkömmlichen beiden Basispunkte einfach mal verlassen würde und sich in den freien Raum begibt und schaut, was dann passieren könnte ... Vielleicht ist es ja eine Überforderung von uns, aber es ist vielleicht auch eine Möglichkeit. Prof. Volkmann, Sie wollten gleich zu diesen Gedanken etwas sagen.

Prof. Volkmann:
Ich darf vielleicht vom Standpunkt der Wissenschaftstheorie aus ein paar Bemerkungen dazu machen. Das könnte uns helfen, miteinander genauer zu kommunizieren, also uns gegenseitig besser zu verstehen. Unter einer Wissenschaft versteht man eine Disziplin, der es um die systematische Suche nach Wahrheit geht. Der Begriff der Wissenschaft muß so weit gefaßt werden - und hier liegt heute meistens ein Vorurteil vor, daß er nicht nur die Naturwissenschaft(en) umfaßt, sondern auch die verschiedenen Geisteswissenschaften, Sozialwissenschaften, exakten Wissenschaften wie Mathematik, die weder Natur- noch Geisteswissenschaften sind, technischen Wissenschaften und viele andere. Wir würden der Medizin, aber auch der Theologie und anderen einen Bärendienst erweisen, wenn wir diesen heute üblichen Sprachgebrauch des Wortes Wissenschaft ablehnen würden, also die Frage falsch aufwerfen, ob man der einen oder anderen Disziplin die Wissenschaftlichkeit absprechen sollte, weil vielleicht das Studium dieser Disziplin in der Bundesrepublik Deutschland zur Zeit einiges zu wünschen übrig läßt. Also selbstverständlich ist nach dem heutigen Sprachgebrauch, den man in jedem Lexikon nachsehen kann, Medizin eine Wissenschaft, aber - ich will es gerne wiederholen - keine Naturwissenschaft. Hier liegt eine Verengung vor, aus dem Englischen kommend, daß man Wissenschaft, ,,scientific discipline``, verwechselt mit ,,science`` und so tut, als ob die Naturwissenschaften mit ihrer typischen Erkenntnisweise die einzigen Wissenschaften wären. Da gibt es manchmal die drolligsten Mißverständnisse, so als ob jede Wissenschaft mit materiellen Dingen zu tun hätte und dann auch noch mit geistigen usw., während in Wirklichkeit die Wissenschaften voneinander zu unterscheiden sind. Jede Wissenschaft hat ihren eigenen Gegenstand. Es gibt Naturwissenschaften, es gibt andere. Die Gegenstände unterscheiden sich völlig. Jede Wissenschaft hat ihre eigene Methodik bei der Suche nach Wahrheit. Die Methodik ist in keinen zwei Wissenschaften dieselbe. Jede Wissenschaft hat ihren eigenen Wahrheitsbegriff. Nun müssen wir global in dieses Gesamtschema uns selbst einbringen, jeder das Fachgebiet, aus dem er kommt. Der Versuch einer Definition wäre etwa für die Medizin: Medizin ist die systematische, wissenschaftlich begründete Bemühung, den Menschen und der Menschheit zur Erhaltung oder Wiedergewinnung der Gesundheit zu helfen oder beim Umgang mit nicht behebbaren Krankheiten behilflich zu sein.

Dr. Derbolowsky:
Damit haben wir eine Basis, auf der wir weitermachen können.

Dr. Zycha:
Darf ich jetzt vielleicht einmal ein bißchen versuchen, wieder in die Tiefe zu gehen, damit wir nicht nur von Bäumen sprechen, sondern auch vom Wald. Das Thema ist jetzt ein wenig vorbereitet, aber vielleicht noch nicht ganz dort, wo ich es mir eigentlich vorstelle. Ich sehe in diesen Zusammenhängen, wenn man immer nur von Wissenschaft spricht ... Wissenschaft heißt ja eigentlich, daß man etwas Wissen gewinnen soll, daß man Erkenntnis gewinnt. Soweit man das tut, ist überhaupt nichts dagegen zu sagen, aber man wendet es ja wieder an. Und da kommen jetzt die Probleme. Ich denke schon so drüber nach, wie ich das deutlich machen soll. Ich habe es auch gestern in der Diskussion als Versuchsballon mal steigen lassen wollen, aber es ist mir nicht gelungen, weil die Leute die Tiefe oder die Tragweite dieser Frage einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Es ist nämlich folgendes... Es liegt ganz tief in der Naturwissenschaft das Problem, daß wir die Natur nicht wirklich so erkennen können, wie sie ist. Die Realität können wir nicht erfassen. Das folgt nicht nur aus meinem Konzept, sondern das sagen ja auch die Physiker selber. Seit Bohr, spätestens Heisenberg, da gibt es entsprechende Aussprüche: Physik hat nicht die Aufgabe, zu erkennen, wie die Natur wirklich ist, sondern nur, das was wir darüber aussagen können usw.. Das Problem ergibt sich jetzt daraus, daß wir aus der Natur über die Erkenntnis Theorien gewinnen, die zugegebenermaßen, also das behaupte gar nicht nur ich allein, sondern das wird ja auch von anderen zugegeben, daß diese Theorien nicht vollständig sein können. Wir können die Natur nicht wirklich erfassen. So, und jetzt kommt sozusagen die Gretchenfrage mit der ganz furchtbaren Konsequenz, und ich muß die Frage stellen: Wie kommen wir Menschen dann dazu, diesen Kreis zu schließen, indem wir diese unvollständigen Theorien zurück auf die Natur anwenden? Das ist die Technologiefrage, und das ist in meinen Augen eine Gretchenfrage, die buchstäblich schon in der Bibel formuliert ist, das ist nämlich das Problem des Baumes der Erkenntnis. Und wie das zusammengeht - man kann das z.B. bei Weinreb wunderbar nachlesen, da ist das ganz schön analysiert. Es ist das Problem: hier Erkenntnis und da - unten - zurück zur Natur. Für mich ist die Antwort klar, aber die Antwort wird nicht gegeben, weil man der Frage schon ausweicht, denn da würden ganz gewaltige Dinge daraus folgen: im Urzustand hätten wir bleiben müssen, aber das geht natürlich nicht. Aber die Frage ist trotzdem aktuell. Sie wird nicht zur Kenntnis genommen, weil es so schwere Konsequenzen hat, daß wir unsere Wissenschaft anwenden zurück auf die Natur. Und das ist das Problem, und ich weiß nicht, wie wir da rauskommen.

Prof. Volkmann:
Das Problem der Theoriebildung: Eine Theorie ist der Versuch, eine Fülle von interdependenten Tatsachen nach modellhaft vereinfachenden Gesichtspunkten systematisch zu beschreiben. Eine Theorie ist nur möglich durch modellhafte Vereinfachung - übrigens in allen Wissenschaften.

Dr. Zycha:
Ja, aber Sie legen den Schwerpunkt auf die Theorie. Ich lege den Schwerpunkt auf die Technologie. Da liegt das Problem.

Prof. Volkmann:
Eine Theorie ist nur möglich nach modellhaft vereinfachenden Gesichtspunkten.

Dr. Zycha:
Ja, das stimmt, aber gerade das begründet ja meine Aussage.

Prof. Volkmann:
Die Wirklichkeit ist zu kompliziert, als daß jemals eine Theorie sie vollständig beschreiben könnte. Dies müssen wir einsehen und dürfen darüber nicht traurig sein. Eine Theorie ist immer anwendbar insoweit, wie die Voraussetzungen, die ihr Modell macht, verwirklicht sind.

Dr. Zycha:
Darüber müssen wir aber traurig sein, denn genau das ist in meinen Augen eben die ganz tiefe Ursache unserer Umweltzerstörung.

Prof. Staudinger:
Ich glaube, die Schwierigkeit ...

Dr. Zycha:
Das nimmt niemand zur Kenntnis ... Ja, das ist die Hybris unserer Naturwissenschaft!

Prof. Staudinger:
Also ich glaube, die Schwierigkeit, die bei diesem Gespräch hier im Hintergrund steht, liegt in der Frage der Modelle. Es ist sicher richtig, daß wir die Wirklichkeit überhaupt nur in Modellen fassen können, wir können sie sicher nicht unmittelbar fassen. Aber: Während die klassischen Naturwissenschaften - und davon ist auch unser heutiges Denken weitgehend beeinflußt - der Auffassung waren, daß man eben die gleichen Modelle immer wieder anwenden könne, und zwar liegt das daran, daß die klassische Naturwissenschaften von einer Zeitvorstellung ausgingen, die die Unwiederholbarkeit der Zeit wenig berücksichtigte. Die klassische Naturwissenschaft war der Auffassung, man könnte alles immer wiederholen, es bleibe im Grunde genommen alles gleich, wir hätten nur zyklische Zeitabläufe, die sich immer wiederholen. Dadurch konnte man natürlich auch relativ einfach Modelle entwickeln, da man die Modelle ja immer wieder anwenden konnte. Da wir heute inzwischen nicht nur durch Prigogine, sondern auch durch andere Untersuchungen wissen, daß die Zeit irreversibel ist, ist es so, daß wir mit unseren Modellen zum Teil übermorgen nicht mehr klarkommen, weil die Zeit inzwischen weitergeschritten ist und sich inzwischen die Voraussetzungen für diese Modelle geändert haben. Insofern sind wir in einer schwierigeren Lage, als die klassischen Naturwissenschaften und das von ihnen ausgehende Denken uns weismachen wollte. In der Medizin wissen wir das umso deutlicher, da sowohl die menschliche Gesellschaft als ganze wie aber auch im Zuge davon die individuellen Entwicklungen heute anders sind als ein anderes Mal. Also daß wir die Medizin des Mittelalters heute in vielen Fällen nicht mehr anwenden, liegt nicht nur daran, daß wir gewissermaßen ,,weitergekommen`` sind in der Wissenschaft, sondern liegt auch daran, daß die Zeit inzwischen selber Mensch, Gesellschaft und alles geändert hat, so daß wir also auch deshalb in der früheren Weise nicht mehr weiterkommen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, daß die Veränderungen der Zeitstrukturen ein Tempo gewonnen haben, was auch in der Medizin uns Angst machen könnte. Insofern möchte ich Ihnen, Herr Zycha, vollkommen zustimmen. Karl Rahner hat ja einmal gesagt, es wäre denkbar, daß wir eben Abschied nehmen müssen von der alten Vorstellung ,,aus Schaden wird man klug`` - und zwar deshalb Abstand nehmen müssen davon, weil der Schaden eventuell schon so schnell und irreversibel eintreten kann, daß das Klugwerden zu spät kommt. Insofern sind wir in einer neuen Situation und ich glaube, daß wir in der Hinsicht mit den (und da gebe ich Ihnen vollkommen recht) alten Vorstellungen der Klugheit nicht mehr recht klarkommen. Und hier sehe ich eine gewisse Schwierigkeit. Es stellt sich für mich sogar das Problem, ob wir bestimmte Entwicklungen bewußt verlangsamen sollten, also sagen, der Fortschritt darf gar nicht so schnell geschehen, denn wenn der Fortschritt zu schnell geschieht, dann sind wir nicht mehr in der Lage, die Folgeerscheinungen, die nicht gesehenen, nicht beabsichtigten Nebenfolgen dieses Fortschritts noch einigermaßen unter Kontrolle zu bringen.

Dr. Zycha:
Das ist der Ostwald'sche Imperativ, den wir befolgen sollten, der energetische, den man aber heute vielleicht besser als entropischen bezeichnen könnte.

Dr. Mann:
Hier könnte vielleicht wieder die Wirtschaft etwas helfen. Wir arbeiten momentan an einem neuen Führungsbild. Im alten Führungsverständnis führt der Mächtige den weniger Mächtigen oder der fachlich Bessere den fachlich Schlechteren. Im neuen Führungsbild führt der Bewußtere den weniger Bewußten. Der Bewußtere ist der, der zweifaches Sehen gelernt hat, der nämlich hinter die Oberflächlichkeit des augenscheinlichen Geschehens gucken kann und den Sinn dahinter sieht, d.h., der, der hinter dem, was die Sinneseindrücke wahrnehmen den Sinn des Ganzen erkennen kann oder der, der hinter dem Symptom die Bedeutung sieht oder hinter der Wirkung die Ursache erkennen kann. Das ist aber etwas, was bei uns begrenzt ist durch eine Schranke zwischen dem intellektuellen Denken, was unter dieser Schranke ist und dem intuitiven Spüren, was über der Schranke ist. Und diese Schranke - da komme ich wieder auf ihr Altes Testament zurück - hatte Namen: Gut und Böse. Solange wir urteilen in Gut und Böse sperren wir uns vor der Erkenntnis, die uns eigentlich den Sinn zeigt und das Geistige hinter dem äußerem Erscheinungsbild. Da hängen wir, glaube ich, heute noch.

Prof. Demling:
Ich wundere mich immer über die Unbefangenheit, mit der sie mit dem Begriff ,,Wahrheit`` und ,,Wirklickkeit`` umgehen hier. Die Pilatusfrage war doch, um wieder auf das Testament zu kommen: ,,Was ist Wahrheit¿` John Wheeler (das ist ein bekannter Physiker) hat die schöne Formulierung gebraucht, die Wirklichkeit oder auch das, was wir als Wahrheit bezeichnen, hängt von der Art der Frage ab, die wir an sie stellen. Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß jeder oder eine Gruppe sich ihre Wahrheit, ihre Wirklichkeit, gewissermaßen selbst macht. Es gibt keine Wirklichkeit an sich, es gibt keine Wahrheit an sich, sondern wir machen etwas zur Wahrheit. Das sind Möglichkeiten, die außer uns liegen, aber wir verwirklichen sie und machen sie zum Faktischen. Und dann noch die Frage der Irreversibilität der Zeit: Ich bin kein Physiker, aber es wird ernsthaft diskutiert, ob der Zeitpfeil sich nicht umkehren läßt und umgekehrt wird, wenn das Universum wieder mal kollabiert.

Dr. Zycha:
Aber das betrifft uns nicht mehr ...

Prof. Demling:
Nein, aber generell ist es wohl so, daß es mal möglich sein kann, daß nicht mehr diese Blutung nach der Verletzung, sondern erst die Blutung und dann die Verletzung kommt. Das klingt paradox für uns, aber es scheint doch im Rahmen dessen zu liegen, was die Physiker und Mathematiker denken.

Dr. Mann:
Das ist die Aufgabe der Schönheitschirurgie, oder?

Dr. Derbolowsky:
Schön, daß Sie das aufwerfen! Es ist ja auch ein Ziel unserer gemeinsamen Diskussion, daß wir auch Fragen stellen können, deren Sinn auf den ersten Blick nicht erkennbar erscheint oder sich erst im Laufe der Zeit - und dann haben wir die Zeit wieder mit einbezogen - vielleicht herausstellt.

Prof. Staudinger:
Ich wollte jetzt doch noch etwas sagen. So einfach ist das nun auch wieder nicht, wie Sie das eben gesagt haben, Herr Demling. Natürlich haben Sie darin recht, daß wir die Wirklichkeit selbst nicht unmittelbar fassen können, das ist sicher richtig.

Prof. Demling:
Die gibt es gar nicht.

Prof. Staudinger:
Da wollte ich gerade darauf eingehen. Die Wirklichkeit an sich können wir sicher nicht erfassen. Darin gebe ich Ihnen vollkommen recht. Aber da wir Erscheinungen der Wirklichkeit haben, nehmen sie dies bekannte Beispiel, was immer angeführt wird: das Licht. Wir können nicht sagen, was das Licht als Wirklichkeit selbst ist. Das können wir nicht sagen; das gibt ihnen jeder Physiker zu. Aber wir können natürlich sagen, daß das Licht in Erscheinung tritt, einmal als Welle und einmal als Korpuskel. Genauso gibt es andere Dinge, die entweder in einer Form oder in mehreren Formen in Erscheinung treten. Und nun haben Sie wieder dann recht, daß das In-Erscheinung-Treten weitgehend abhängt von der Methode, mit dem ich die Erkenntnis dieser betreffenden Wirklichkeit suche. Also, wenn ich bestimmte Experimente mache, dann weiß ich schon im Voraus heutzutage, weil's andere vor mir auch schon gemacht haben, da wird das Licht als Welle erscheinen - wenn ich andere mache, wird es als Korpuskel erscheinen. Das weiß ich. Aber: ich habe natürlich noch nicht sämtliche überhaupt möglichen Experimente und Erkenntnisse. Insofern kann ich also immer wieder mit neuen Versuchen rangehen und gucken, ob da etwas in Erscheinung tritt von der Wirklichkeit und wie es dann jeweils in Erscheinung tritt. Insofern stimmen wir also darüber überein, daß die Wirklichkeit, wie sie uns erscheint, immer von unserer Methode abhängt, mit der wir an sie herangehen. Da stimmen wir vollkommen überein. Wir stimmen nur nicht darüber ein, daß Sie sagen, die Wirklichkeit gibt es überhaupt nicht.

Prof. Demling:
Eine Sache ganz kurz: Sie können ein Elektron entweder als Korpuskel beobachten oder als Welle, sie können es aber nicht nacheinander einmal so, einmal so. Das schließt sich aus. Sie machen aus dem Möglichen - das gebe ich Ihnen zu - durch die Beobachtung das Faktische.

Dr. Derbolowsky:
Die meisten möchten etwas dazu sagen ... Gehen wir bitte die Meldungen der Reihe nach durch.

Dr. Kieper:
Herr Professor Schott sagte vorhin, für Ihn (wenn ich Sie richtig verstanden hatte) ist die Medizin auf keinen Fall eine Kunst. Ich hatte eingangs die Frage gestellt: Ist Medizin überhaupt Wissenschaft? Und ich komme eigentlich jetzt zu dem Ergebnis, daß Medizin überhaupt keine Wissenschaft ist, weder eine Geisteswissenschaft noch eine Naturwissenschaft. Wir müssen fein differenzieren zwischen dem ärztlichen Forscher (da haben wir ja hier einige anwesend) und dem praktizierenden Arzt oder dem Arzt schlechthin. Denken wir an den ärztlichen Forscher. Der denkt und forscht im Sinne Descartes (ich glaube im 18./19. Jahrhundert), in einer Zeit, wo wir in eine neue Zukunft gehen. Ich meine damit das sogenannte statische, lineare Denken. Wenn wir Vorträge hören aus der Universität, dann sind das im wesentlichen Statistiken, lineare Denkmodelle, die aus dem vorletzten Jahrhundert sind. Das ist doch ein Unding in einer Zeit, wo wir sehr fortschrittsgläubig sind. Die Naturwissenschaftler hier unter uns werden das ganz sicher noch etwas besser belegen können. Wenn wir uns nun ändern und ändern die Denkmodelle in Richtung der dynamischen Denkweise und auf das Nicht-Lineare zu, dann kann ich mir schon eher vorstellen, daß wir uns einer Wissenschaft nähern. Aber ganz sicherlich nicht einer Naturwissenschaft, allenfalls einer Kunst. Das ärztliche Denken schlechthin halte ich persönlich, wenn es im guten Sinne durchgeführt wird, für eine wirkliche Kunst. Warum? - Wenn sie ganz einfach arbeiten in der Praxis: Sie haben einen Patienten, der hat ein Magenproblem und sie schlagen die Gelbe Liste auf und gucken unter Gastritis nach (das kann jeder Fußpfleger), dann wird er eine Fülle von Medikamenten finden, die symptomatisch behandeln. Da ist keine Kunst, das ist auch keine ärztliche Kunst. Die ärztliche Kunst bei diesem Krankheitsbild würde natürlich zunächst mal sein eine sehr genaue Anamnese, sehr genaue Differentialdiagnose, eine sehr gute weiterführende Diagnostik und dann - und das liegt mir natürlich als Vertreter einer Universitätsmedizin plus Erfahrungsheilkunde sehr am Herzen -, daß ich dann diesen Patienten (wie ich vorhin sagte) personotrop behandle, daß ich überlege, ist jetzt eine Operation indiziert, ist vielleicht die Homöopathie indiziert oder die Akupunktur oder ist etwas Pflanzliches indiziert? Das ist die Kunst des Arztes. Und dann bewegen wir uns in einem Denkmodell: Wir leben ja in drei Dimensionen, da können wir uns bewegen und denken. Aber vielleicht ist das dann die Phase, wo wir von der dritten in die vierte Dimension ein wenig hineinsehen können. Das ist ärztliche Kunst. Zusammenfassend möchte ich einfach sagen: Medizin ist in diesem Sinne keine Wissenschaft!

Dr. Derbolowsky:
Damit könnten wir hier schon diesen Diskussionspunkt abschließen, aber es gibt noch mehr Wortmeldungen, die vielleicht einen ganz anderen Aspekt ...

Prof. Sich:
Ich würde gern unmittelbar daran anschließend bemerken, daß es vielleicht hilfreich ist, zwischen Medizin als gesellschaftlichem Phänomen zu unterscheiden und der Lehre von der Medizin, die nach meinem Dafürhalten selbstverständlich eine Wissenschaft sein sollte, und daß wir uns hier über die Lehre von der Medizin und medizinischer Forschung unterhalten und nicht über die Medizin als gesellschaftlichem Phänomen. Wenn wir da unterscheiden, wäre es wahrscheinlich ein bißchen leichter.

Prof. Pietschmann:
Ich habe mich eigentlich ursprünglich gemeldet nach der Wortmeldung von Herrn Demling wegen der Umkehrung der Zeit. Ich weiß nicht, ob das jetzt noch interessant ist, dazu ein Wort zu sagen. Denn zu dem anderen Problem, Wirklichkeit - ich unterscheide ja zwischen Wirklichkeit und Realität, möchte ich hier gar nicht anfangen, denn ich glaube, das sind tatsächlich so subtile Dinge, daß es gar nicht möglich ist, es in der Kürze hier abzuhandeln. Zu der Zeitumkehrung möchte ich nur sagen, das, was sie meinen (und sie haben völlig recht, daß sich sehr renommierte, bekannte Physiker damit beschäftigen) ist einfach das Folgende - und das wirft vielleicht auch ein bißchen eine Licht auf unsere Denkweise: Albert Einstein hat bekanntlich mit seinen allgemeinen Gravitationsgleichungen die neue Gravitationstheorie, also die Relativitätstheorie, begründet. Und diese Gleichungen, die unter anderem auch Phänomene, wie sie real vorkommen, nämlich Periheldrehung des Merkur und Lichtablenkung richtig beschreiben, was sonst keine Theorie kann, die lassen auch mathematisch-formal Lösungen zu, bei der sich die Zeit umkehrt. Aber das ist natürlich physikalisch - entschuldigen sie, daß ich das so sage - ein Unding. Wenn man z.B. die Schwingungen einer kreisförmigen Membrane anschaut, da gibt es eben Lösungen, die die Schwingungen richtig beschreiben und dann gibt es noch Lösungen, die haben eine Singularität im Mittelpunkt, die schmeißt man weg, weil man sagt, das ist eben physikalisch nicht sinnvoll. Nur, im Augenblick, wo solche Sachen hereinkommen wie mit der Zeit, da geben sich auch bekannte, berühmte Physiker her, so zu tun, als hätte das irgendeinen Realitätsgehalt, weil es halt eben die Emotionen anspricht. Es wird hier viel darüber gesprochen, ist die Medizin eine Wissenschaft, Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft usw.; das ist eine wunderschöne Diskussion, aber sie spiegelt mehr, wie ich meine, unser Wunschdenken wider. Wie hätten wir's denn gerne? In der Realität ist es ja doch so, daß es darauf ankommt, nach welchen Kriterien wir vorgehen, wenn Entscheidungen zu fällen sind. Und da würde ich doch behaupten, wenn irgendwelche Entscheidungen zu fällen sind, dann gilt heute einfach die naturwissenschaftliche Denkweise als das Kriterium schlechthin. Ich war selbst involviert, in Österreich, in den Bemühungen, die Akupunktur und dann auch ein bißchen die Homöopathie (es ist ja noch nicht gelungen) gesellschaftsfähig zu machen. Die Gegenargumente sind immer die gewesen (der Krankenkasse, die gesagt hat, das zahlen wir nicht), weil es sich nicht naturwissenschaftlich begründen läßt. Da wird dann nicht gefragt: Ist die Medizin eine Naturwissenschaft? Oder Homöopathie: Warum darf man Homöopathie nicht lehren, auch wenn die Patienten gesund werden? Wie mir viele Ordinarien der Schulmedizin versichert haben, man kann sie nicht lehren, weil wir die Kausalkette nicht kennen. Aber auch das ist natürlich eine naturwissenschaftliche Begründung. Oder wenn ein Lehrstuhl zu besetzen ist, dann wird natürlich derjenige, der sich in den naturwissenschaftlichen Kategorien besser ausgewiesen hat, vorgezogen werden. D.h. bei den ganz konkreten, politischen Entscheidungen, nicht parteipolitischen, im weitesten Sinne, da wird dann doch einfach als Faktum immer die Naturwissenschaftlichkeit als Kriterium herangezogen.

Prof. Demling:
Aber den Professor Ernst haben sie doch berufen nach England, nach London.

Dr. Mann:
Ich habe nur eine kurze Frage: Wenn wir jetzt wissen, ob die Medizin eine Wissenschaft ist oder nicht, haben wir dann die Krise gelöst oder ist es jetzt völlig egal?

Dr. Zycha:
Mit dem Wissen allein nicht, aber Konsequenzen ergeben sich schon.

Dr. Mann:
Ja, gut, aber für die Sinnkrise der Medizin?

Prof. Schott:
Ich glaube, daß die Wissenschaftsdefinition sehr entscheidend ist dafür, wie bestimmte Forschungsprogramme installiert, wie bestimmte Ergebnisse gewertet werden. Also, mit anderen Worten (ich sage das häufiger spaßeshalber) egal was es ist, Homöopathie oder Kräutermedizin oder wie auch immer, wenn da von wissenschaftspolitischer Seite ein Projekt gemacht würde, sagen wir mal für zehn Millionen Mark und dann würde vielleicht sogar ein Max-Planck-Institut hingestellt... Sofort hätte das - unabhängig von den Ergebnissen - eine Relevanz. Es erschiene als eine wissenschaftlich ernsthafte Sache, weil viel Geld ausgegeben wurde. Schauen sie, der Krebsvirus, den wir immer noch nicht so genau gefaßt haben, der ist deshalb so relevant, weil sehr viel investiert wurde: große Gebäude, viele tausend Menschen, die sich damit befassen. Wenn wir nur einen Bruchteil davon mal in die vorhin aufgeworfene Frage investieren, wird das ganz unabhängig davon, was da rauskommt, als gewichtige wissenschaftliche Fragestellung akzeptiert. Verstehen sie, was ich meine? Mit anderen Worten: In dem Moment, wo in eine Fragestellung (das betrifft nicht nur die Medizin, sondern z.B. auch psychologische Gebiete, Parapsychologie usw.) bestimmte Mittel investiert wurden, erscheinen die Ergebnisse auch eine Bedeutung zu haben. Deshalb denke ich, daß die Wissenschaftspolitik entscheidend für die Zukunft ist, und damit hängt natürlich auch die Wissenschaftsdefinition zusammen. Wenn ich per definitionem soziale Faktoren, historische Fragen (die vor allem mich interessieren), sozialpolitische Fragen beiseite dränge und sage, das interessiert uns nicht - dann natürlich bekommt die betreffende Fragestellung sozusagen von vornherein den Touch der Unwissenschaftlichkeit, weil nicht investiert wurde.

Dr. Mann:
Aber jetzt haben Sie doch nur gesagt, wenn etwas teuer genug ist, wird es wissenschaftlich.

Prof. Schott:
Ja, formal, phänomenal ist das so. Wissenschaft ist das, wofür investiert wird, in gewisser Weise. Ich sage das jetzt sozusagen aus der ethnologischen Beschreibungsdistanz - ein bißchen übertrieben, aber ich meine, es ist ein Punkt, der ganz wichtig ist. - Nochmal zu dem Problem, das Herr Zycha aufgeworfen hat, das ich für ganz zentral halte, nämlich die Frage von Gut und Böse. Wir stehen jetzt in der Gentechnologie ja vor der Fragestellung: Ist es etwas Gutes, was wir damit erreichen können oder ist es letztlich eine furchtbare Fehlentwicklung mit Folgen, die wir gar nicht einschätzen können? Ich glaube, daß das letztlich wiederum religiöse Fragestellungen ganz tief berührt. Wir sind gut beraten, wenn wir jetzt nicht glauben, wir könnten sozusagen mit rational-wissenschaftsimmanenten Kriterien entscheiden, ob wir es machen sollen oder nicht. Wir müssen uns mit diesen ethischen Fragen, wie sie heute formuliert werden, in aller Gründlichkeit auseinandersetzten. Und ich denke, daß das nur geht, daß sich jeder persönlich auseinandersetzt auf seiner Ebene, die er erreichen kann, in seiner Perspektive. Dann wird man sehen, wie man da überhaupt zu einem Konsens kommen kann. Ich glaube nicht, daß es im Moment (sie denken da vielleicht ähnlich) absolut entscheidbar ist, wie die Weichen zu stellen sind.

Dr. Zycha:
Doch, ich könnte einen Vorschlag machen. Wenn ich jetzt sage, ich könnte einen Vorschlag machen, dann heißt das nicht, daß der gleich in die Tat umzusetzen wäre, denn das ist furchtbar schwer. Aber weil gerade vorhin die Homöopathie angeschnitten worden ist... Das ganze Problem der Wissenschaftlichkeit der Homöopathie ist (in meiner Sicht) kein Problem der Homöopathie, sondern genau das Problem der Wissenschaft selbst. In einem erweiterten wissenschaftlichen System läßt sich nämlich heute die Homöopathie vollständig erklären. Aber im Rahmen der bisherigen Naturwisssenschaft, der linearen Kausalketten usw. ist sie nicht erklärbar; sie ist nicht materiell erklärbar. Man muß das erweitern. Im Märzheft der Allgemeinen Homöopathischen Zeitung kommt mein Aufsatz dazu heraus. Da gehe ich ganz konkret auf diese Dinge ein. Ich behaupte, sie läßt sich erklären, aber nicht im Rahmen dieser bisherigen Naturwissenschaft, sondern in der erweiterten, in der wir wieder zurückkommen auf das, was uns eben vor langer, langer Zeit verlorengegangen ist, eben dieses biblische Problem (ich kann es nicht anders nennen), es ist immer wieder das Problem, daß man den Geist eliminiert hat. Wir müssen ihn wieder reinholen, so primitiv oder irrational das klingt. Aber das ist nicht mehr irrational heute.

Dr. Eberl:
Ich überlege mir manchmal, ob man nicht sogar noch weitergehen müßte. Das ist jetzt ein bißchen utopisch, und zwar, daß die Medizin einfach aus der ganzen Wissenschaft ausschert. In ihrer Zielsetzung haben wir doch festgestellt, daß es eher darum geht, den Menschen zu helfen, - also als soziale Funktion. Und da tritt das Wort Wahrheit ja erst einmal gar nicht auf. Natürlich können wir es auch so machen, wie Herr Schott gesagt hat: sozusagen die Wissenschaft als solche bestehen lassen. Wir wissen ja, wie wir es machen müssen: nur viel Geld ausgeben für das, was wichtig ist, dann ist es wissenschaftlich. Ob man nicht einfach ansetzen sollte an dem Problem, wie helfe ich den Menschen am besten? Und: Brauchen wir dazu überhaupt die wissenschaftliche Struktur? Man hat ja auch andere Funktionssysteme, die gut funktionieren: die Wirtschaft, die Leute versorgt mit Lebensmitteln ... Es ist nicht alles, was Menschen machen, Wissenschaft. Es gibt auch vieles, das funktioniert und nicht wissenschaftlich ist.

Dr. Derbolowsky:
Und wer beurteilt, was am besten ist? Frau Prof. Schroeder-Kurth.

Prof. Schroeder-Kurth:
Ich denke, daß wir ein bißchen den Faden verloren haben zu der Frage, wie soll denn z.B. ein Medizinstudium gestaltet werden. Mir scheint es ja so zu sein, daß auseinanderdriftet, was die Naturwissenschaften und die Medizin hervorbringt und was das eigentliche Arztsein bedeutet, das Sie angesprochen haben. Es wird ein großer Unterschied zwischen dem Arzt und dem Mediziner gemacht. Der Mediziner hat also noch im Hintergrund etwas mit der Wissenschaft zu tun, da er von dort ja seinen Input bekommt, so wie wir aus der Genetik. Und ich sitze wieder als Prellbock dazwischen, - muß das herüberbringen, was aus der Wissenschaft bereitgestellt wird, was aus den Medien bekanntgeworden ist und was der Patient geradezu einfordert. Ich weiß nicht, was wir unterm Strich sehen sollten, wenn Sie sagen, die Medizin ist keine Wissenschaft und braucht auch die Wissenschaften nicht. Ich denke, daß die Medizin sehr viel davon profitiert hat, daß naturwissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen wurden, und das wird auch noch so weitergehen. Wir können also nicht jetzt schon die ganze Gentechnik abschaffen, nur weil Bedenken da sind. Das haben wir lange schon erfahren. Die Frage, wie gehen wir damit um, wäre dann die andere Frage ... daß man mit Gegebenheiten umgeht. Und das bringt natürlich die Frage wieder auf, die Sie, Herr Schott, genannt haben. Wie wird das in Bonn alles gesteuert? Wir bekommen unsere Gelder von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und da gibt es bestimmte Themen, die gefördert werden und bestimmte Themen, die nicht gefördert werden. Wie könnte man das ausgleichen, wenn Themen nicht gefördert werden, die wir aber als wichtig erkennen, die für das Arztsein wichtig wären? Auch wird von Bonn gesteuert, wie das zukünftige Medizinstudium gestaltet wird. Es wird keine Lerninhalte mehr geben, sondern Zusammenhänge über komplexe Geschehen. Und jetzt kommen die ganzen Gegenreden von den Naturwissenschaftlern, die sagen: das ist gar nicht möglich. Frau Gerhard und ich haben in der Pause darüber gesprochen, daß es vielleicht ein Weg wäre, wenn man bei einer grundsätzlichen Basisausbildung für den zukünftigen Arzt oder Mediziner bleibt und dann im Laufe der Reifung eines Menschen (wir wissen alle aus unserer Erfahrung, daß die etwa so mit 25 Jahren wissen, was sie tun wollen, und nicht mit 20) dann sagt, gut, der eine sollte weitergehen auf dem Weg in Richtung Arzt, der andere in Richtung auf Mediziner mit naturwissenschaftlichem Verständnis und Grundlagenforscher werden. Das wäre also eine Möglichkeit - und trotzdem löst das nicht unsere Probleme, weil es immer Leute gibt wie mich, die dazwischen sitzen.

Dr. Derbolowsky:
Danke. Für mich taucht bei dem, was Sie sagen, eine Frage auf: Wieso eigentlich ,,entweder - oder``?

Prof. Staudinger:
Mir scheint der Hinweis, der von Herrn Schott begonnen und von Ihnen weitergeführt wurde, auf die Wissenschaftspolitik wichtig zu sein und auch auf die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Ich habe ja bis Anfang dieses Jahres ein Institut für wissenschaftstheoretische Grundlagenforschung geleitet, und in diesem Institut haben wir fast ständig interdisziplinär geforscht, wie wir das ja an diesem Tisch auch tun, vielleicht nur systematischer, weil wir bestimmte Projekte über viele Jahre verfolgt haben. Aber, meinen sie, es wäre möglich gewesen, bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft dafür auch nur einen Pfennig zu bekommen? Und warum nicht? Das ist das noch Groteskere: nicht deshalb, weil diese Forschung nicht als wichtig anerkannt wurde. Ich kann Ihnen Briefe von dem Präsidenten geben, wo er versichert, wie wichtig das alles sei. Aber der hat überhaupt keine Kommisssion, die das bearbeiten kann, und die Formblätter sind nicht darauf eingestellt. Es sind rein bürokratisch irrsinnige Dinge. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft ist in diesem Sinne - und das möchte ich hier ganz hart sagen - ein Club von Fachidioten für Fachidioten, aber niemals irgendeine Gemeinschaft, in der wirklich lebendige Forschung vorangetrieben wird.

Dr. Derbolowsky:
Vielleicht können wir zu diesen Fragen von Herrn Dr. Mann hören, wie die Wirtschaft solche Probleme löst oder eben auch nicht löst.

Prof. Volkmann:
Nochmals zu den Begriffen: Wenn die Medizin morgen früh erklären würde, daß sie keine Wissenschaft ist, würde es dazu führen, daß in kurzer Zeit die medizinischen Fakultäten an den wissenschaftlichen Universitäten geschlossen würden, denn dort sind nur wissenschaftliche Disziplinen zugelassen. Man muß das doch bedenken. Es wäre das Unsinnigste, was man tun könnte. Dann aber nochmals: Es gibt nicht nur Naturwissenschaften, es gibt nicht nur Geisteswissenschaften, sondern darüber hinaus zahlreiche andere Wissenschaften, z.B. Mathematik, die weder eine Natur- noch eine Geisteswissenschaft ist, Sozialwissenschaften usw. Ich stelle ständig fest, daß wir in diesem verengten Wissenschaftsbegriff leider immer wieder zurückfallen, so als ob Wissenschaft synonym mit Naturwissenschaft wäre. Mehr Selbstbewußtsein derer, die die Medizin als Wissenschaft vertreten, ohne den Fehler zu machen, die Wissenschaftlichkeit durch Naturwissenschaftlichkeit nachweisen zu müssen. Selbstverständlich ist Medizin eine Wissenschaft, und sie umfaßt methodisch sowohl naturwissenschaftliche als auch geisteswissenschaftliche, also sozialwissenschaftliche und noch andere Aspekte. Es ist zum Glück nicht richtig, daß die Anerkennung einer Wissenschaft davon abhängen würde, wieviel Geld für sie bewilligt wird. Gegenbeispiele: Theologie, Altphilologie und andere anerkannte Wissenschaften, die wenig Geld verbrauchen. Es ist also nicht so, daß wissenschaftliche Anerkennung proportional zu den verbrauchten oder erhaltenen Geldmitteln wäre. Zum Glück nicht.

Prof. Schott:
Im Moment ist es ziemlich so. Die Geisteswissenschaft ist heute nichts wert, weil nichts investiert wird. Ich sage das überspitzt.

Prof. Volkmann:
Sie sind heute überfüllt, weil junge Leute zu Recht dort eine Zukunft sehen. Ebenso ist doch klar (begrifflich), es gibt in jeder Wissenschaft Berufsgruppen, die sich mit Forschung und mit wissenschaftlicher Lehre befassen und Berufsgruppen, die sich mit Anwendung befassen: der Wirtschaftswissenschaftler an der Universität und der führende Manager in der Industrie, der Rechtswissenschaftler an der Universität und der Richter am Gericht oder der praktizierende Anwalt, der philologische Forscher an der Universität und der Lateinlehrer am Gymnasium, und so könnte man fortfahren ... Wir brauchen doch nicht so zu tun, als ob das immer in Personalunion geschehen müßte. Nein, eine Wissenschaft studiert man in der Regel an einer Universität oder technischen Hochschule und wendet sie später in einem entsprechenden Beruf an. Die Anwendung ist nicht identisch mit der Forschung und der Suche nach Wahrheit, aber doch beruht sie auf den wissenschaftlichen Kenntnissen, die dabei eingehen.

Dr. Derbolowsky:
Zu Ihrem ersten Punkt: Als praktischer niedergelassener Arzt wird man ständig mit der Meinung konfrontiert, was nichts kostet ist nichts wert. Jedenfalls denken viele Patienten so. Sie gucken sehr genau nach, wie teuer das Medikament ist, das sie selbst verschrieben bekommen. Daraus werden durchaus Schlüsse gezogen, und tun wir das nicht alle? Wenn wir irgendwo eingeladen werden oder in ein Galakonzert gehen, wo die Karte extrem teuer ist, so ist das für viele vielleicht ein bedeutenderes Konzert, als wenn die Karte billig oder gar umsonst ist. Und noch ein Gedanke taucht in mir auf bei dem, was Sie gesagt haben. Könnte es sein, daß die Reduktion, z.B. der Medizin auf den naturwissenschaftlichen Aspekt, damit zusammenhängt, daß es weniger Angst macht, daß wir dann das Gefühl haben, daß sich in uns durch die Illusion der Exaktheit sozusagen ein Gefühl entwickelt wie: hier haben wir Boden unter den Füßen, hier haben wir Sicherheit, und wenn wir in eine andere Ecke gehen, dann können wir es nicht mehr begründen, können keine Kausalität erkennen, dann schwimmen wir, wenn wir das wagen. Könnte das damit zusammenhängen, daß wir uns selbst nicht mehr in einem Sinngefüge ruhend sehen, in einem Sinn für uns ganz individuell?

Dr. Zycha:
Mit dem Problem der Exaktheit kommen wir aber jetzt wieder zu den Begriffen zurück, nämlich zu dem Unterschied zwischen Realität und Wirklichkeit. Exakt können wir relativ sein in bezug auf die Wirklichkeit; wenn man sie aber versteht als das, was auf uns wirkt, so wie das auch Prof. Pietschmann definiert und ganz klar unterscheidet von der Realität. In bezug auf die Realität gibt es keine Exaktheit. Da können wir überhaupt alles vergessen. Aber in bezug auf die Wirklichkeit, da kommen wir vielleicht doch schon etwas weiter auch mit der Vorstellung von Exaktheit, aber wir müssen dann wirklich unterscheiden zwischen den Dingen, soweit sie auf uns wirken und soweit sie unabhängig von uns objektiv irgendwo als Kant'sches Ding-an-sich existieren. Der Unterschied ist maßgebend.

Prof. Pietschmann:
Ich möchte gern versuchen, die Gedankengänge, die sich jetzt entwickelt haben, ein bißchen aus meiner Sicht darzustellen, weil ich glaube, daß das schon ein sehr wesentlicher Punkt war. Es wurde von Wahrheit gesprochen, der wissenschaftlichen Suche nach Wahrheit und danach immer wieder vom Alten Testament und von der Sinnkrise. Ich glaube, daß die Sinngebung des eigenen Lebens untrennbar verbunden ist mit dem Begriff der Wahrheit. Sie haben ja Pilatus erwähnt... Jedenfalls die Frage nach der Wahrheit. Und nun scheint es mir, daß eben das Mittelalter gekennzeichnet war durch eine Zeit, in der die Sinngebung der Menschen dadurch erfüllt wurde, daß sie an diese Wahrheit - die Wahrheit des Jesus von Nazareth - glauben konnten und daß das ja dann abgelöst wurde, in einem langen Prozeß am Beginn der Neuzeit bis zur Naturwissenschaft, durch die Naturwissenschaft, die nun, wie ich meine, vorgegeben hat, einen neuen Zugang zur Wahrheit zu haben. Das stellt sich jetzt als Illusion heraus. Wir reden zwar noch von Wahrheitssuche, aber was wir hier machen (es ist ja auch angesprochen worden), das nenne ich: das Widerspruchsfreimachen der Wirklichkeit. D.h., wir machen hier ein exaktes Bild, Modelle, diese Begriffe sind ja alle schon gekommen. Das Entscheidende scheint mir aber, daß es sich jetzt in unserer Zeit herausstellt, daß wir nicht die Naturwissenschaft als Vehikel zur Wahrheit verwenden können. Nur fürchte ich, daß es im politischen Grabenkampf nichts nützt, wenn wir sagen, es gibt noch andere Wissenschaften, weil, wie ich zuerst gesagt habe, die Entscheidungen ja dann doch nach den naturwissenschaftlichen Kriterien gefällt wurden. Da glaube ich, muß uns bewußt sein, daß es einfach unmöglich und auch unsinnig wäre, zu glauben, man könne sich von der Naturwissenschaft so mir nichts, dir nichts distanzieren, denn wir haben ja noch nichts anderes, was uns sozusagen die Wahrheit ersetzt. Da nutzt es auch nichts, wenn wir sagen, es wäre halt schön, wenn wir noch einen Glauben hätten. Natürlich wäre das schön. Wir haben ihn nicht mehr. Es ist ein historischer Prozeß, und ich glaube, daß wir an diesem Punkt stehen, und an einem solchen Punkt scheint es mir immer ganz entscheidend zu sein, daß die Neuerungen immer dadurch kommen, daß von Individuen ausgehend ein neuer Sinn gefunden wird, wobei keiner natürlich weiß, ob das dann der Sinn ist, der sich durchsetzen wird. Aber, daß es hier wirklich notwendig ist, beispielgebend voranzugehen, z.B. zu sagen, ich versuche in meinem Kreis das jetzt in der medizinischen Ausbildung (oder in meinem Fall ist das die Ausbildung von Lehrern)...hier einen neuen Weg zu gehen und Sinn zu geben.

Dr. Derbolowsky:
Ich habe da eine Verständnisfrage: Gibt es nur die Alternative Naturwissenschaft oder etwas anderes? Oder haben wir auch die Möglichkeit zu sagen, die Naturwissenschaft, wie Sie das auch für mich deutlich dargestellt haben, bietet eine ganze Menge Dinge, und wir haben auch sehr viel Positives durch die Naturwissenschaft bekommen und können zusätzlich trotzdem sagen, es gibt einen Gott?

Prof. Pietschmann:
Na ja, schon, aber das ist ja das, was schon angesprochen wurde. Das ist ja etwas, was sich gar nicht allein im Kognitiven abspielt, sondern in unserer ganzen individuellen Persönlichkeitsstruktur und in unserer Gesellschaftsstruktur, ist das, was bisher die Sicherheit gegeben hat, daß es doch irgendwo einen Sinn gibt, das, was an diesen Erfolgen hängt. Natürlich können wir das individuell sagen, aber im Augenblick, wo wir dieses Terrain aufweichen, da kommen alle diese Urängste. Meines Erachtens ist es einfach eine Angstreaktion, wenn es heißt, Homöopathie darf nicht gelehrt werden u.ä.. Oder ich habe gestern diese Beispiele gebracht: In Österreich gab es diesen Musterprozeß, wo ein Patient mit einer Knieleiden, von dem es auch in der Schulmedizin keine eindeutige Therapie gibt, um 5000 Schilling Medikamente bekommen hat, die die Krankenkasse anstandslos gezahlt, aber nichts genutzt haben. Dann ist er zum Homöopathen gegangen und der hat ihm Medikamente für 800 Schilling verschrieben und es ist deutlich besser geworden, aber die Krankenkasse hat gesagt, das zahlen wir nicht, weil es uns egal ist, ob es besser wird oder nicht, weil es nicht naturwissenschaftlich begründet worden ist.

Dr. Zycha:
Nach meiner Ansicht kann es gar nicht um Alternativen gehen im Sinne von Ausschließen. Wir müssen die Naturwissenschaft beibehalten, da gibt es überhaupt gar keine Frage dazu. Aber ich meine, wir müssen sie als Teil sehen einer höheren, übergeordneten Wissenschaft. In diesem Bereich hat die Naturwissenschaft nach wie vor dann ihre Bedeutung, das muß so bleiben. Wir müssen sie als Teil sehen. Ich meine, diese höhere Sicht (das ist jetzt meine Überzeugung, wie ich es abgeleitet habe), die kommt letzten Endes aus dem Ganzheitsprinzip, indem wir eben wieder zu allem zurückfinden müssen. Und da kann man ganz genau zeigen, wo die Naturwissenschaft lokalisiert ist und daß sie ein Teil ist. Der Teil soll sie bleiben, nach wie vor, aber wenn wir wissen, daß darum herum viel mehr ist, ich glaube, dann werden wir auch etwas bescheidener und vorsichtiger in der Anwendung der Naturwissenschaft. Damit kommen wir wieder zu meinem Hauptproblem zurück. Auf das möchte ich hinaus. Also, es geht nicht um ,,Kampf gegen``, es geht nicht um ausschließliche Alternativen, sondern um Integration im Sinne von Komplementarität.

Prof. Sich:
Könnte man nicht auf die Situation von kranken Menschen und ihrer Umwelt im lebensweltlichen Kontext zurückgehen? Es ist in verschiedenen Statements auf Individuum und die Notwendigkeit der Betrachtung von einzelnen Individuen in Krankheit hingewiesen worden und auch auf die Lebenswelt. Ich meine, daß individuelle Krankheitsprozesse im Kontext von Individuum, psychologisch, physiologisch im Kontext von Familie, im Kontext von Arbeitswelt, im Kontext von Sozialwesen und biographisch studiert werden müssen. Wir haben die verschiedensten medizinischen Disziplinen, die das sehr kompetent tun. Diese Dinge müßten wieder zusammengeschaut werden und dann unter dem Strich nachgesehen werden: Was ist das eigentlich, Erkrankung? Wie wird damit umgegangen? Wie kann man den Umgang, der uns gegenwärtig zu problematisch erscheint, verbessern? Wenn man sich einfach nicht nur die theoretischen Voraussetzungen dazu ansieht, sondern auch die Erfahrungen im Kontext von dem, was getan wird und dann auf die Theorie zurückreflektiert.

Prof. Schott:
Also das, was Frau Sich anspricht, haben wir bisher viel zu wenig diskutiert. Es sollte nachher vielleicht noch einmal aufgegriffen werden. Ich möchte an dieser Stelle als Medizin- und Wissenschaftshistoriker an Sie appellieren, sich doch ein bißchen mehr mit der Geschichte der Naturwissenschaften zu befassen. Es gibt kaum etwas Faszinierenderes, denn es war ja nicht so, daß mit Ende des Mittelalters nun plötzlich die Religion und die Naturwissenschaft getrennte Wege gingen. Dies wird gerade in der Diskussion um die naturwissenschaftliche Fundierung der Medizin immer wieder falsch gesehen. Jedes Jahrhundert hat eine eigene Art der Naturwissenschaft ausgebildet, letztlich einen eigenen Typus. Und ich behaupte z.B., daß der tierexperimentelle Physiologe Ende des 19. Jahrhunderts nicht vergleichbar ist mit dem Physiologen, wie er heute irgendwo im Labor in einem Großpharmaindustriebetrieb steht. In der frühen Neuzeit war es so, daß sich die emanzipierenden Naturwissenschaften nicht schlechtweg vom geistigen Raum emanzipiert haben, sondern den vorgegebenen Raum neu definiert und sehr wohl die zentralreligiösen Fragen zunächst mal noch für ein-, zweihundert Jahre ganz intensiv mit aufgenommen haben. Man kann ja sagen, dies betrifft vor allem die ,,geistigen Erneuerer``, und wenn man die Alchemie und bestimmte Physiker der Anfangszeit betrachtet (bis Newton). Wenn man jetzt beide Seiten wieder zusammenbringt - wir haben ja vorhin von der Schere gesprochen - (und das sage ich natürlich jetzt pro domo), sollte man sich die historische Entwicklung sehr genau angucken, daß man auch begrifflich weiß, wovon man spricht. Ich behaupte, daß der Begriff Naturwissenschaft (oft wird er ja heute mit negativer Konnotation ausgesprochen) historisch gesehen für jede Epoche, auch in verschiedenen Kulturkreisen, neu zu definieren ist. Erst wenn wir diese Differenzierung einführen, können wir den vulgären, anti-naturwissenschaftlichen Impetus vermeiden. Darum geht es ja auch. Wir wollen ja nicht die Naturwissenschaft eliminieren.

Dr. Derbolowsky:
Dieser Aspekt hilft uns, uns zugleich bewußt zu sein, wie ich eingangs schon sagte, daß wir ohne unsere Wurzeln ebensowenig überleben können wie ein Baum ohne Wurzeln. Es fehlt dann etwas, wenn wir nur die ,,Baumkrone`` als wirklich ansehen und die Existenz des Wurzelwerks ausblenden bzw. vergessen. Herr Dr. Mann.

Dr. Mann:
Ja, mir scheint hier wieder eine Parallele zu sein zu dem Führungsproblem der Wirtschaft. Das Drama dahinter heißt: ,,Du bist nicht gut genug``. Deshalb spielen wir bestimmte Maskenrollen, versuchen wissenschaftlich zu beweisen, versuchen uns finanziell abzusichern, machen alle möglichen Dinge. Sie sehen heute, was alles passiert. Es gibt da ein Unternehmen, das kennen Sie sehr gut, da müssen 70.000 Leute gehen, um einen Arbeitsplatz zu erhalten. Da sieht man mal, wie die ganzen Dinge umgestülpt werden. Das ,,Du-bist-nicht-gut-genug`` heißt, ,,Ich tu' ja alles, damit du mich anerkennst``. Das ist immer das Verlassen von uns selbst, von unserem inneren, göttlichen Kern. Das ist unsere Unsicherheit, weil wir uns nicht innen polen und innen unsere Mitte suchen, sondern außen die Anerkennung suchen, die man uns innen nicht geben kann. Da ist doch der Kern. Und das kommt mir bei Ihnen genauso vor. Sie versuchen alles Mögliche zu beweisen, was den Patienten völlig egal ist.

Dr. Zycha:
Meinen Sie jetzt mich?

Dr. Mann:
Nein, ich meine überhaupt das medizinische Phänomen.

Prof. Volkmann:
Zum Wahrheitsbegriff nochmal: Es ist schon richtig, eine Wissenschaft ist die systematische Suche nach Wahrheit, aber gewiß nach fachspezifischer Wahrheit. Das ist einer der Fortschritte in unserem, im 20. Jahrhundert, gewesen, daß auch gerade die Naturwissenschaften in ihrem Anspruch auf Wahrheit erfreulich bescheiden geworden sind. Das war früher einmal, vielleicht noch im 19. Jahrhundert, so, daß sie religiöse Glaubensüberzeugungen über Bord geworfen haben und meinten, sie könnten das Gegenteil beweisen, also etwa die Vorstellung, man könnte physikalisch beweisen, daß es keinen Gott gibt oder ähnlichen Unsinn.

Prof. Pietschmann:
Umgekehrt ist es auch versucht worden.

Prof. Volkmann:
Ja, noch früher, ja. Und das ist heute erfreulicherweise vorbei. Jeder Naturwissenschaftler heute weiß, daß er naturwissenschaftliche Aussagen nur dort machen kann, wo der Gegenstand seiner Wissenschaften ist, und das heißt bei Phänomenen, die sich mit Hilfe von Meßinstrumenten beobachten lassen. So habe ich es im Physikstudium gelernt. Das ist der Gegenstand der Physik etwa. Daher ist es doch viel positiver zu sehen, daß die Frage nach Gott, nach dem persönlichen Glauben heute frei ist. Niemand bekommt im Hörsaal oder im wissenschaftlichen Labor Gegenargumente, die ihn persönlich daran hindern würden, z.B. Christ zu sein und daran zu glauben, daß Jesus Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben ist. Nur früher oder bei den Leuten, die heute noch geistig im 19. oder im frühen 20. Jahrhundert leben, noch vor Planck und Einstein hängengeblieben sind oder die irgendeiner kommunistischen Propaganda auf den Leim gegangen sind, nur bei denen wirkt so etwas noch nach, so als ob die Naturwissenschaften den universellen Wahrheitsbegriff gepachtet und gewissermaßen Gott entthront hätten, während es auf der anderen Seite überzeugte Christen gibt wie Wernher von Braun oder andere Naturwissenschaftler.

Prof. Demling:
Ich möchte noch mal an das anknüpfen, was Sie gesagt haben. Es war im alten Griechenland so, daß die Philosophen ja alle Naturwissenschaftler waren, und sie sollten überhaupt zur Philosophie nur zugelassen werden in die Schulen, wenn sie Mathematik und Geometrie beherrschten. Das ist die eine Sache. Die andere Sache ist, ich wundere mich immer ein bißchen, wie hartnäckig sie an diesem Dualismus von Materie und Geist festhalten, auf der einen Seite Naturwissenschaften, auf der anderen Geisteswissenschaften. Ich glaube dieser Dualismus in dieser scharfen Form existiert nicht. Nochmal zu dem Begriff ,,Wirklichkeit``, damit ich nicht mißverstanden werde. Ich wollte nur sagen, es gibt nicht die Wirklichkeit; es gibt schon irgendeine Wirklichkeit, aber die macht sich jeder, jeder Beobachter, jede Gruppe gewissermaßen selbst. Es ist noch etwas anderes ... Ich glaube, der Mathematiker Cantor hat das ausgedrückt: es gibt keine scharfen Grenzen, es gibt überall fließende Übergänge. Und wenn wir uns hier über Dinge unterhalten und uns nicht einigen können über irgendetwas, ist das etwas ganz natürliches. Man kann nicht scharf sezieren, kann sagen, hier beginnt die Naturwissenschaft, hier beginnt die Geisteswissenschaft. Der Dualismus ist ohnehin so ein bißchen fraglich. Das geht ineinander über. Ich meine der Kern für die Medizin ist - und das ist ein ganz primitiver Satz: Wer hilft - nicht wer heilt - hat recht. Darauf kommt es an. Das wollen wir für die Medizin haben, ob sie nun Wissenschaft ist oder nicht. Das ist völlig wurscht. Dem Patienten muß geholfen werden. Das ist das Entscheidende.

Dr. Derbolowsky:
Könnte es, wenn es einem Menschen geholfen hat, auch anderen helfen?

Prof. Demling:
Es kann, aber es muß nicht.

Prof. Staudinger:
Vielleicht wäre es hilfreich (wir haben das immer versucht in unserem Institut) zu unterscheiden zwischen Richtigkeit und Wahrheit, wobei wir unter Richtigkeit jeweils verstanden haben die systemkonsequente Nachweisbarkeit, wie sie etwa die Naturwissenschaften in ihren Denksystemen bringen. Wahrheit dagegen ist etwas, was zumindest abzielt auf eine Wesenserkenntnis, wobei das natürlich problematisch ist. Darum sage ich auch ganz vorsichtig ,,abzielt``. Es wird glaube ich auch nur von daher verständlich, was Sie hier zitiert haben. Es ist ja immer etwas schwierig, das Neutestamentliche so einfach einzubringen. Wenn es von Jesus etwa heißt ,,Ich bin die Wahrheit``, dann ist das ja sicher etwas anderes als die Wahrheit, die wir nachweisen können. Hier ist eine personale Wahrheit gegeben. Zu dem personalen Bereich der Wahrheiten gehört etwa, wenn ich jemandem sage ,,Ich liebe Dich``, dann ist das niemals im naturwissenschaftlichen Sinne nachweisbar. Wenn ich dem Betreffenden dann sagen würde ,,Beweise mir das¡`, dann könnte der vielleicht alle möglichen Fakten angeben, aber dann könnte ich ihm sagen ,,Da hast Du da was berechnet; Du hast genau gewußt, warum Du das gemacht hast¡` usw. Also d.h. im personalen Bereich kann ich derartige Nachweise schlechthin nicht erbringen, sondern da gehört dazu eine Basis, die wieder interpersonal ist und die ich nicht objektivieren kann. Und ich glaube, es war, für uns jedenfalls, immer ganz hilfreich, daß wir diesen Unterschied zwischen Richtigkeit, die - zumindest im Idealfalle - zumindest falsifizierbar sein sollte, und der Wahrheit, die im Grunde genommen eigentlich immer nur mit einem Vorschuß von Vertrauen und mit einem Vorschuß von - ja, hier möchte ich gern das Wort wirklich sagen: Glauben, also auch wenn ich sage ,,Ich liebe Dich``, muß der andere ja sagen können, ,,Das glaube ich Dir``. Der kann ja nicht sagen: ,,Das hast Du mir bewiesen``.

Dr. Zycha:
Wir sind zwar inzwischen schon wieder etwas abgetrieben... Was da vorher angeklungen hat, diese Sache mit dem Dualismus, daß natürlich nur Naturwissenschaftler auch das geistige Prinzip insofern akzeptieren, als sie religiös sind, in die Kirche gehen usw. Das ist als solches schon selbstverständlich, üblich. Aber ich bin gegen diese Trennung, gegen dieses Schisma dieser zwei Dinge. Ich bin z.B. dagegen, daß jemand in die Kirche geht, sich dort das fromme Mäntelchen umhängt, dann betet und zur Kommunion geht, und wenn er dann rausgeht, gibt er dieses Mäntelchen wieder an der Garderobe ab und ist draußen wieder der strenge Materialist. Also ich sehe das nicht ein, warum man das so trennen muß auf die Dauer. Dieser Dualismus muß nicht zu einem Schisma führen zwischen diesen zwei Begriffen. Und das ist wieder mal ein Teil von diesem ganzen Konzept der Ganzheit, wo das wieder zusammenkommt.

Prof. Schott:
Ja, ich glaube daß das von Ihnen sehr richtig gesehen ist in dem Sinne, daß es den reinen Materialisten oder Naturwissenschaftler gar nicht gibt, weil der durchsetzt ist von Aberglauben, durchsetzt von mythischen Vorstellungen usw. Ich habe einmal vor Virologen einen Vortrag zu Wilhelm Reich gehalten und ihnen erklärt, wie dieser rein vitalistisch den Krebs erklärt hat. Sie haben mich keineswegs ausgebuht, sondern sagten ,,Ja, das ist eigentlich ganz plastisch¡`. Ich will nicht sagen, daß damit etwa die wissenschaftlichen, naturwissenschaftlichen Grundlagen außer Kraft gesetzt werden, sondern daß wir heute in der Situation sind, wo im Grunde offenbar in uns allen, insofern wir Wissenschaft treiben, immer auch ein sensibler Pol ist, ein Persönlichkeitsanteil, der ganz unwissenschaftlich denkt und sich gar nicht unterscheidet von jemandem, der nie etwas mit Wissenschaft zu tun hat. Das dürfen wir nie vergessen. Der Wahrheitsanspruch ist in der Wissenschaftsgeschichte meist mit einem Machtanspruch gekoppelt. Und wehe, wehe, wenn da so ein Wahrheitsanpruch durchgehend ist, dann wird der sehr schnell zum Totschlagsargument! Da brauchen wir ja nicht allzu weit in unserer Geschichte zurückzugehen, wo die Wahrheit der Rassenbiologie etwa entsprechende Folgen hervorgebracht hat. Deshalb ist mir der Begriff ,,Richtigkeit`` sehr viel sympathischer in Ihrem Sinne, Herr Staudinger.

Prof. Volkmann:
Na ja, und was dieses Schisma angeht, da ist es doch zu empfehlen, genau umgekehrt vorzugehen, daß wir, soweit wir von Beruf Wissenschaftler sind, die streng objektive - vielleicht noch auf das Experiment bezogene - Denkweise an der Garderobe abgeben, sobald wir das Labor verlassen und dann im Privaten wieder vielleicht ganz anders uns als Christen bewähren und nicht nur in der Kirche, sondern an jedem Tag. Der Dualismus verbietet sich allein schon da, wo wir, auch im Beruf (ich habe das erlebt in Fakultäts- oder Senatsitzungen oder bei hochschulpolitischen Auseinandersetzungen) plötzlich als Christ gefordert sind und dann Farbe bekennen müssen durch unser Verhalten. Die umfassendere Wahrheit ist allemal die, die von der Sinngebung unseres Lebens ausgeht. Und wenn wir wissenschaftlich berufstätig sind, ist das ein untergeordneter Teil in meinem persönlichen Leben, der niemals das Ganze sein oder auch nur prägen dürfte.

Dr. Kieper:
Für mein persönliches Verständnis möchte ich jetzt in dieser Runde besonders konkret werden. Ich habe vorhin schon kleine Versuche gemacht, aber ich habe nie eine konkrete Antwort bekommen. Vielleicht glückt es mir jetzt, daß ich jetzt ganz konkrete Antworten bekomme. Es hat sich nämlich etwas Spannendes hier herauskristallisiert. Ist Medizin eine Wissenschaft? - Ich behaupte, Herr Prof. Schott, so wie sie sich jetzt darstellt, ist es ein Stück der Geschichte der Medizin. Mir ist es überhaupt nicht einleuchtend, daß eine randomisierte Doppel-Blind-Studie, wo ja bekanntlich Patient und Doktor blind sind, als Zeichen des linearen Denkens überhaupt noch zeitgemäß ist. Das heißt, worauf ich hinaus will, wenn Medizin eine Wissenschaft ist (und da bitte ich auch Herrn Prof. Volkmann zu helfen, diese Frage zu beantworten), dann müssen wir doch die Frage stellen: Ist es eine zeitgerechte Wissenschaft? Das heißt, es kann doch nicht angehen, daß wir an der Universität - und da muß ich mich einfach noch einmal wiederholen, weil ich da keine Antwort darauf bekommen habe - nach wie vor mit linearem Denken versuchen, die Probleme zu lösen. Wie kann es angehen in der heutigen Zeit, mit randomisierten Doppel-Blind-Studien zu arbeiten, zumal wir es mit biologischen Systemen zu tun haben. Was ja viel wichtiger ist: Wir haben es mit Menschen zu tun! Das liegt mir am Herzen. Das ist der eine Punkt. Dann wollte ich gleich überleiten zu Herrn Dr. Mann, um ihn auch zu inspirieren. Es gibt ein vortreffliches Buch von (ich hatte auch versucht ihn einzuladen) Prof. Warnecke ,,Die fraktale Fabrik``. Der schreibt in diesem Buch sinngemäß: Wenn wir in der Verfahrenstechnik oder auch in der Volkswirtschaftslehre, Wissenschaftslehre und in den Betrieben so arbeiten wie die Universität im Bereich der Medizin forscht, dann wird die Industrie die nächste industrielle Revolution nicht überleben. Und ich sage Ihnen, eine Erklärung auf die Sackgasse in der Medizin, in der Rheumaforschung, in der Krebsforschung liegt darin, daß Forscher nicht in der Lage sind, das 19. Jahrhundert zu überwinden. Ich bitte Sie herzlich, mir diese Frage zu beantworten: Warum sind wir nicht in der Lage, nichtlinear zu forschen, dynamisch zu forschen?

Prof. Demling:
Das habe ich Ihnen doch schon beantwortet. Die Studien sind richtig, die braucht man. Aber die Individualität wird zu wenig berücksichtigt. Man braucht meines Erachtens beides. Man darf sich nicht nur von der Studie leiten lassen, sondern wie das üblich war bis, ich weiß nicht, 1920 oder 1925 ungefähr, auch von der Einzelbeobachtung des Arztes. Das hat früher das therapeutische Wissen eines Arztes ausgemacht, daß er von seinen Erfahrungen am Einzelfall und von der Erfahrung seines Lehrers gelernt hat. Dann kamen erst die Doppel-Blind-Studien auf, die sicher notwendig sind, aber nicht allein selig machen.

Prof. Schott:
Zu Doppel-Blind-Studien möchte ich nichts sagen, aber generell zu Herrn Dr. Kiepers Ausführungen vielleicht eine kurze Anmerkung machen. Ich glaube, es ist eine ganz großes Handicap der gegenwärtigen wissenschaflichen Medizin, sprich Universitätsmedizin, daß wir große Bereiche des Gesundheitsbetriebes, auch der Patienten, die sich außerhalb unserer Mauern Hilfe suchen, nicht wissenschaftlich in den Blick nehmen. Damit meine ich, daß wir viel zu wenig Studien treiben nicht nur über naturheilkundliche Verfahren (die ja zum Teil auch schon integriert sind in die Schulmedizin), sondern überhaupt über Hilfesuche im paramedizinischen Bereich schlechthin. Ich habe gerade vor ein paar Tagen einen großen Zeitungsartikel im Bonner Generalanzeiger gelesen und zu meiner Verwunderung festgestellt, daß Geistheiler die Beethovenhalle gemietet haben, um mit Propaganda, ihre Methode publik zu machen. (Wen das interessiert, den Zeitungsausschnitt kann ich nachher raussuchen.) Es ist ganz frappierend. Ich weiß nicht, Herr Demling, ob Sie das nicht doch auch sagen würden: Als Erstes müßten von unserem Anspruch her wissenschaftliche Studien angelegt werden. In welchem Umfang passiert es? Was passiert da? Wie findet das im Einzelnen statt? Es müssen Einzelfallstudien usw. durchgeführt werden, wohlgemerkt das, was wir unter wissenschaftlichen Studien verstehen. Und dazu reicht natürlich nicht der pharmakologische Doppel-Blind-Versuch aus, sondern es müssen sozialwissenschaftliche, sozialmedizinische Studien usw. dazukommen.

Prof. Pietschmann:
Es ist ganz interessant, daß Sie diesen Schluß daraus ziehen. Ich hätte aus dieser Tatsache den Schluß gezogen, nicht daß man da jetzt Einzelstudien macht, sondern daß man sich die Frage stellt: Was macht unsere Medizin falsch, daß solche großen Massen sich an die Geistheiler wenden?

Dr. Mann:
Jetzt mal anders ausgedrückt: Sie fallen doch immer wieder auf die gleiche Geschichte rein. Jetzt wollen sie auch hier wieder Studien machen. Über etwas, was nicht studierbar ist, wollen Sie Studien machen. Ich habe jetzt gelernt, daß die Studien ökonomisch sinnlos sind, weil sie nur noch eine Aufgabe haben, daß es einem kalt den Rücken runterläuft. Ist es so?

Prof. Demling:
Ich habe nicht gesagt, Studien sind nicht notwendig... Aber wenn ich das Wort Studien höre in seiner Ausschließlichkeit, wie es heute gebraucht wird in einer fordernden Ausschließlichkeit, dann läuft es mir kalt den Buckel runter. Dann erinnere ich mich immer an die Geschichte, es muß in einer Studie nachgewiesen werden, daß, wenn der Ziegel runterfällt vom Dach, es dem Fußgänger ein Loch in den Kopf hauen kann.

Prof. Schott:
Darf ich vielleicht folgendes zu Herrn Mann noch sagen, warum ich es für wichtig halte. Wenn wir Mediziner Medizinstudenten ausbilden, dann müssen wir sie, glaube ich, mit der Situation vertraut machen, daß später Patienten in hohem Prozentsatz zu ihnen kommen werden, wenn sie mal als Ärzte tätig sein sollten, die mit solchen Äußenseitermethodenïn Berührung kommen oder sogar lange mit ihnen in irgendeiner Form behandelt werden. Da ist es doch wichtig, daß wir doch halbwegs geklärte Kriterien haben, wo wir sagen können, unter diesen und jenen Bedingungen raten wir total ab, müssen wir sogar dagegen ankämpfen; unter anderen Bedingungen können wir uns gewisse Kooperationsformen vorstellen. Wie können wir wissenschaftlich uns so damit auseinandersetzen, daß wir hinterher ein Stück weiter sind als vorher und wirklich sagen können, hier gibt es im Unterschied vielleicht zu der früheren medizinischen Schulmeinung doch einen Weg, da und dort etwas positiv zu wenden. Ich wüßte nicht, wie wir uns auseinandersetzen wollen mit diesen Dingen, wenn nicht ,,wissenschaftlich`` in einem positiven Sinn.

Dr. Mann:
Es gäbe doch einen Ansatz: Gehen Sie einfach mal zur Behandlung hin!

Prof. Demling:
Ja, hab' ich auch schon gemacht. Man muß die Leute fragen, warum sie dahin gehen.

Dr. Derbolowsky:
Es zeichnet uns aus, wenn wir einen gewissen Grad von Offenheit haben, um uns diesen Dingen zu stellen und sie auch praktisch umzusetzen.

Ich denke, wir sollten diesen Faden jetzt verlassen und uns einem weiteren Aspekt zuwenden. Bei einem nächsten Treffen können wir dann diesen Faden ja wieder mit aufnehmen.

Es gibt ein Zitat von Herrn Heisenberg. Ich hoffe, daß ich es richtig zitiere: ,,Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaften macht atheistisch, aber auf dem Boden des Bechers wartet Gott.`` Die Frage, die sich für mich aus diesem Satz ergibt, lautet, ob wir erst durch die Naturwissenschaften durch müssen, um auf den Boden des Bechers zu kommen. Eine zusätzliche Frage ergibt sich daraus, daß wir uns in der Diskussion bisher damit beschäftigt haben, wie wir überhaupt Fernziele für die Medizin in unser Blickfeld bekommen können. Dies kann für den Praktiker unter Umständen zunächst etwas ärgerlich erscheinen, weil er in der Praxis dauernd mit den Nahzielen und Alltagsgegebenheiten konfrontiert wird. Aber ist es nicht so, daß erst die Fernziele es ermöglichen, Nahziele zu haben, und besteht nicht die Gefahr darin, daß wir uns schließlich in die Nahziele verlieben, z.B. gerade in der Naturwissenschaft und das übergeordnete Fernziel vergessen? Lassen Sie uns diese Punkte in der verbleibenden Zeit noch anschneiden. Sie, Frau Prof. Sich, haben ja schon damit angefangen. Da ist z.B. die individuelle Frage nach dem Sinn der Krankheit für den einzelnen. Wie greifen wir da ein? Was können wir denn dann praktisch machen? Auch der Aspekt, daß man einfach selber mal hingehen müsse, z.B. zum Geistheiler, wenn man darüber reden will, ist ja schon angeschnitten worden. Vielleicht können wir noch etwas mehr auf dieses Individuelle eingehen.

Prof. Staudinger:
Ich wollte doch zu dem Zitat von Heisenberg etwas kritisch anmerken, daß das doch etwas komplizierter und schwieriger ist, als das Zitat vermuten läßt, denn wir haben ja in zahlreichen Wissenschaften - das war klassisch anerkannt eine ganze Zeit lang - einen Atheismus, den wir als methodischen Atheismus bezeichnen können und auch bezeichnen. Man hielt es für unwissenschaftlich für die Erklärung bestimmter Pänomene Gott einzuschalten. In dem Augenblick verließ man die Wissenschaft. Es gibt ja auch zahlreiche Abhandlungen, in denen dann ausdrücklich von Grenzüberschreitungen und solchen Dingen die Rede ist. Ich möchte da nicht im einzelnen darauf eingehen. Ich wollte nur sagen: Wenn wir uns auf eine Wissenschaftskonzeption einlassen, die mit dem methodischen Atheismus verbunden ist, dann können wir natürlich nie am Schluß auf Gott kommen, denn der ist ja methodisch von vornherein ausgeschaltet. Also wir können allenfalls, und das ist der Vorschlag, den wir von unserem Institut mehrfach auch in gedruckter Form gemacht haben, fordern, daß auch theistische Thesen gleichberechtigt eingebracht werden dürften. Wir müssen nur jetzt folgendes unterscheiden: Solange wir nur ,,Wenn-dann-Aussagen`` machen, wie wir das in der klassischen Naturwissenschaft z.B. nur machen, brauchen wir natürlich Gott nicht. Wenn ich sage, ,,Wenn ich den Stift runterfallen lasse, fällt er nach unten``, dann brauche ich Gott nicht direkt dafür einzuschalten. Da wäre an das Fallgesetz, etwa bei Newton, anzuknüpfen und dergleichen mehr. Wenn ich aber jetzt, wie das in vielen Büchern heutzutage gemacht wird, Theorien über die Welt insgesamt entwickle, dann kann ich, oder muß ich - nach meinem Dafürhalten - beide Hypothesen (das sind zunächst mal Hypothesen) in Erwägung ziehen dürfen. Einmal, welche Konzeption und welche Theorie der Welt und der Weltbewegung kann ich machen unter Einschluß Gottes und welche kann ich machen unter Nichteinschluß? Dann muß ich diese Theorien der freien Konkurrenz gewissermaßen aussetzen und darf mich nicht von vornherein auf eine dieser Konzeption festlegen, sondern muß diese Frage zunächst einmal offenlassen. Und es ist ja klar, daß ich über die gesamte Welt und Weltbewegung streng genommen immer nur hypothetisch reden kann. Ich kann ja nicht irgendwie Beweise dafür bringen, wie die Welt angefangen hat, zumal ich das eben nicht, wie das naturwissenschaftlich gefordert werden müßte, experimentell nochmal vormachen kann. Das ist klar, und insofern glaube ich, daß wir heutzutage von dem methodischen Atheismus dann runterkommen müssen, wenn wir über die einfachen wenn-dann- bzw. funktionalen Gleichungsaussagen hinausgehen. Die Heisenbergsche Formulierung scheint mir also verführerisch zu sein, weil sie den Eindruck erwecken kann, daß jeder, der wissenschaftlich konsequent forscht, dann automatisch bei Gott landen müsse. Das scheint mir nicht der Fall zu sein.

Prof. Demling:
Darf ich dazu was sagen... Es gab einmal einen Spiegelartikel, da heißt es ,,Asyl für den Herrgott``, und Steven Weinberg (ein Astrophysiker) hat gesagt ,,In einer Welt, in der eine mathematische Formel regiert, gibt es keinen Platz für Gott mehr.`` Dem möchte ich entgegenhalten, daß auch die Mathematik eine Sprache Gottes sein könnte. Und ein Gott, der spricht, ist nicht tot. Das ist einmal das eine. Aber die andere Kernfrage, die Sie angesprochen haben, ohne sie wirklich auszudrücken, ist die Frage, ob sich z.B. Gott beeinflussen läßt durch Gebete. Das ist eine Kardinalfrage. Da bin ich zu einem Jesuitenpater gegangen in München. Albert Keller heißt er, und er soll der beste Prediger von München sein. Der hat mir gesagt: ,,Ja, ob sie Gott beeinflussen können, das möchte ich auch bezweifeln. Wir können nicht sagen, er ist neunzig Prozent gütig und die restlichen zehn Prozent können sie herbeibeten.`` Da habe ich gesagt: ,,Was nützt denn dann das beten¿` Dann hat er gesagt: ,,Es verändert den Beter.`` Eine sehr weise Antwort.

Dr. Mann:
Mir ist gerade ein Bild gekommen, als Sie dieses Zitat gebracht haben. Das Bild ist: Wir sind hier zusammengekommen, weil der Becher leer ist, und wir suchen ständig daran zu trinken, damit wir nicht auf den Boden gucken müssen.

Prof. Pietschmann:
Herr Volkmann hat das zuerst schon ausgedrückt, und ich habe eine Frage gestern nach meinem Vortrag fast genau mit ähnlichen Worten beantwortet wie Sie. Es ist ja einer der großen geschichtlichen Erfolge, daß wir einerseits gezeigt haben, daß in der Naturwissenschaft methodisch Gott ausgeschlossen werden kann, daß daraus aber dann auch folgt, daß jetzt die Frage, wie ich mich dazu stelle, eben eine der persönlichen Verantwortung ist und nicht mehr abgegeben werden kann. Da bin ich ganz Ihrer Meinung. - Nur folgt daraus, daß natürlich die Frage nach dem Sinn dann - im gegenwärtigen historischen Zeitpunkt zumindest - nur individuell zu beantworten ist. Die Suche und die Sinnkrise der Medizin scheint mir ja eben gerade zu reflektieren, daß das nur individuell geht. Steven Weinberg - Nobelpreisträger der theoretischen Physik, sogar Teilchenphysiker,ist unmittelbarer Kollege von mir (Astrophysik ist nur sein zweites Bein) - hat das ja noch stärker gesagt. Der hat das Buch geschrieben ,,Die ersten drei Minuten``, und am Ende sagt er: ,,Je begreiflicher das Universum wird, um so sinnloser erscheint es.`` Das heißt, da zielt er gar nicht mehr auf Gott, sondern überhaupt auf den Sinn. Das Ganze ist ein sinnloses Werkel, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das ist auch eine mögliche Einstellung. Zwischen welcher Einstellung man wählt, ist im gegenwärtigen Zeitpunkt eine Sache der persönlichen Einstellung. Aber ich glaube, worum wir ringen, ist die Frage einer Sinngebung, die über das Individuelle hinausgeht.

Dr. Derbolowsky:
Müssen wir dafür nicht beim Individuum anfangen?

Prof. Staudinger:
Wir sind in der Schwierigkeit, daß eben, obwohl wir in vieler Hinsicht auch wissenschaftskritisch Dinge nicht mehr so einfach sehen können, wie sie frühere Zeiten gesehen haben... Das gilt also für alle Wissenschaften, angefangen von der Theologie bis zur Physik hin. Die Theologen haben ja weitgehend eine Art von Verweigerungsstrategie des Gespräches entwickelt, indem sie betont haben, die Bibel sei kein naturwissenschaftliches und kein geschichtliches Lehrbuch, was als solches natürlich richtig ist. Aber wenn ich jetzt diese richtige Formulierung gebrauche, um mich dem Gespräch mit den Historikern und den Naturwissenschaftlern zu entziehen, werde ich auf diese Weise natürlich auf der einen Seite unangreifbar, aber auf der anderen Seite auch gesprächsunfähig. Wir müssen uns, glaube ich, vergegenwärtigen, daß das natürlich richtig ist und daß umgekehrt mit der Physik Gott nicht beweisbar ist, das ist auch klar. Aber trotzdem wenden sich ja nun sowohl die Naturwissenschaften wie die historischen Wissenschaften wie auch die Bibel irgendwie der gleichen Welt zu und dem gleichen Menschen zu. Insofern ist also ein Gespräch und eine gegenseitige Impulsgebung (oder wie ich das auch nennen soll) etwas äußerst Sinnvolles. Ich glaube, daß hier die verschiedenen Seiten nur gewinnen können, wenn sie in dies Gespräch eintreten und dies Gespräche ernst nehmen, wobei wahrscheinlich keiner von vornherein so genau weiß, was da am Ende dabei herauskommt, wenn man das ganz intensiv betreibt.

Prof. Sich:
Ich möchte mal probieren, mein Empfinden verständlich zu formulieren. Es ist nicht ganz einfach. Mir scheint ein Widerspruch zwischen dem zu bestehen, was wir hier als wissenschaftlich formulieren und zwischen dem, was gleichzeitig für notwendig, erforderlich gehalten wird. Das sind Einzelfallstudien, das ist die Erfahrung von Einzelnen wahrzunehmen, aufzunehmen und in die wissenschaftliche Diskussion einzubringen. Nach der Lage der Dinge scheint mir das die unwissenschaftlichste Tätigkeit per se zu sein. Was aber dahinter steht, und vielleicht hilft das ein bißchen weiter, sind Sachen, wie wenn jemand einen Beinbruch hat. Dann ist das eine medizinisch behandelbare Situation. Es ist aber menschlich gesehen eine völlig andere Situation, wenn ein Bauer sich in den Philippinen ein Bein bricht oder hier ein Professor an der Universität. Aber wir reden von der Medizin als wenn sie dort und hier die gleiche sein müßte oder sollte. Wenn man dann aber den Erkrankungsablauf im kulturellen, individuellen Kontext studiert, nicht nur im Hinblick auf das zu heilende Bein, sondern im Hinblick auf die gestörte Situation, dann kommt man auf völlig andere Problemkonstellationen, mit denen sich die Medizin differenziert auseinanderzusetzen hat, auch im Vergleich. Das ist das eine Beispiel. Ein anderes Beispiel: Eine Migrantin aus der Türkei, die mit diffusen Beschwerden hier ins Krankenhaus kommt und sich elend fühlt aufgrund der isolierten Situation, in der sie sich befindet, in der sie mit ihrer Krankheit nicht zurechtkommt, von der sie natürlich ein Verständnis hat, das mit ihrem kulturellen Hintergrund zusammenhängt: bei der wird im Krankenhaus nach mehrwöchigem Aufenthalt eine chronische Leberentzündung festgestellt, und mit dieser Diagnose und entsprechenden therapeutischen Hinweisen wird sie entlassen. Das hilft dieser Frau überhaupt nicht, denn sie kann mit der Diagnose und den Therapievorschlägen nichts anfangen. Es verschlimmert ihre Situation insofern, als sie noch mehr verunsichert wird, als sie ihre Krankheit noch weniger versteht und als sie für ihre eigene Situation noch weniger Hilfe erwarten kann. Das sind jetzt Extremfälle, die ich gerade zu formulieren suchte, aber in mehr oder weniger großem Abstand erfährt das jeder Patient im Krankenhaus für seine spezifische Situation. Diese Verletzung zu untersuchen, setzt eine Methodik voraus, die ganz offen ist, die nur wahrnimmt und die zunächst einmal phänomenologisch aufnimmt, unabhängig von dem, was sie erwartet und dann versucht, hermeneutisch zu interpretieren. Das sind vielleicht Schritte, die man auch in der Chaosforschung, wenn man die Beobachtungen aufgenommen hat, einbringen kann. Aber in medizinischen Zusammenhängen und in Zusammenhängen von Erfahrungen, die Patienten haben, fehlt mir das überhaupt in der Theoriediskussion in der Medizin und hier spiegelt es sich auch nicht wieder. Aber trotzdem steht dahinter - und ich sage es noch einmal wie vorhin - ein Leiden durch Krankheit, das größer sein könnte als wir uns das überhaupt vorstellen und daß nach meinem Dafürhalten eine Aufgabe der Medizin ist, wahrzunehmen und zu integrieren - nicht nur naturwissenschaftlich! Also hier wäre eine Ergänzung zur naturwissenschaftlichen, nicht ein ausschließen der naturwissenschaftlichen Medizin, sondern eine Ergänzung zur naturwissenschaftlichen Medizin aus Wissenschaftsbereichen, die wir haben, die Methoden haben, die Erkenntniswege haben, die hier einzubringen wären, die wir aber sonderbarerweise in der Medizin nicht nutzen. Eine kleine, aber für mich hier sehr wichtige Ergänzung - weil sich für mich hier für den medizinischen Bereich und die Beobachtungen, die ich gemacht habe, ein Hoffnungsschimmer abgezeichnet hat, sind die Theorien, die aus der Biologie über Jakob von Uexküll, Thüre von Uexküll in die Medizin eingebracht worden sind und die bis heute aus der Grundsatzdiskussion ausgeklammert worden sind. Wir haben Theorien, wir haben methodische Zugänge für diese Probleme und sie werden sonderbarerweise nicht ins Gespräch eingebracht. Das sind Randgebiete der Medizin, die an und für sich als Grundlagenwissenschaft wie Anatomie und Physiologie und Pathologie zur Medizin gehörten.

Dr. Derbolowsky:
Immerhin aber hier bei uns.

Dr. Zycha:
Vielleicht könnte ein Denkansatz ja aus dieser Richtung kommen: Bei der Homöopathie ist es ja so, es wird gegenüber den einzelnen Symptomen der ganze Mensch erfaßt in seiner geistig-seelischen Konstitution dazu. Diese Überlegung müßte man jetzt nur noch weiter ausdehnen, daß man den Menschen nicht mehr als Individuum allein mehr sieht, sondern in seiner Kultur und da diese Symptome mit hinzunimmt. Wenn man das erfaßt, dann könnte man da einen erweiterten Ansatz finden, der irgendwie dem homöopathischen Prinzip entspricht. Vielleicht wäre das zumindest ein Denkanstoß. Ich will nicht sagen, daß das so jetzt zu lösen ist.

Prof. Schott:
Nur noch ein Gedanke zu dem, was Herr Kieper als personotrope Medizin ins Spiel gebracht und, was Frau Sich jetzt vorgetragen hat. Ich meine, die Tatsache, daß nicht jeder Arzt jedem Patienten gleich guttut. Das heißt, wir müssen als Ärzte selber Kriterien entwickeln, wo wir von uns aus sagen, ,,Mit diesem Patienten komme ich nicht so gut zurecht. Geh' zu dem und jenem Kollegen¡` Das heißt eine kooperative, flexible Haltung. Ich halte es für eine ganz große Krux, daß das im Grunde ein Tabu ist, ja das gilt sogar als unethisch, wenn mal ein Arzt sagt ,,Ich kann mit dem Patienten nicht``. Aber es ist ein ganz entscheidender Faktor, daß es nicht nur um Methoden geht, die einzusetzen sind, sondern auch um Personen, die diese Methoden einsetzen. Und gerade bei Ihrem Beispiel, Frau Sich, wenn Leute aus einem anderen Kulturkreis z.B. kommen oder von einem anderen Hintergrund, ist zu überlegen, wieweit ein informierter Arzt auch entsprechende Kollegen in seinem Umfeld hat, mit denen er kooperativ diese Patienten betreuen kann.

Prof. Sich:
Ich hätte das gerne etwas erweitert im Hinblick auf wissenschaftstheoretisches Verständnis von der Bedeutung der Kultur. Nach meinem Verständnis ist die Kultur der Medizin vorgeordnet. Sie ist wichtiger für Abläufe von Krankheitsprozessen als der Arzt, was das Beispiel von der türkischen Patientin zeigen sollte. Die Kultur liefert die Bedeutungszusammenhänge, um überhaupt erst zu erkennen, was Krankheit ist und wie man damit umgeht. Dann erst spielt unsere Medizin mit ihrer Naturwissenschaftlichkeit in dem Falle jetzt eine Rolle. Solange man nicht eine Gesellschaft hat, die absolut naturwissenschaftlich denkt, wird immer ein Patientenklientel bestehen, das kulturelle Verhaltens- und Vorstellungsweisen im Vordergrund hat und umerzogen werden muß zu medizinisch adäquatem Verhalten, damit ihm Segnungen der Medizin auch wirklich zuteil werden, daß sie wahrgenommen werden können. Hier besteht nach meinem Dafürhalten ein Defizit an Erkenntnis von Zusammenhängen, das auch wissenschaftlich aufgearbeitet werden muß. Wir haben zu wenig Kenntnisse über kulturelle Systeme in ihrer Bedeutung von Verarbeitung von Krankheitsprozessen.

Dr. Derbolowsky:
Und damit taucht wieder die Frage auf nach dem Sinn der Krankheit und auch die Frage nach einer Definition: Was wollen wir überhaupt unter ,,gesund`` verstehen.

Prof. Sich:
Das läßt sich aber nur im Kontext von Kultur und kulturellem System beantworten und nicht per Diktum einer modernen naturwissenschaftlichen Medizin. Und da ist ein Konflikt.

Dr. Derbolowsky:
Wobei sich das Feld wieder weit öffnet.

Prof. Sich:
Ja.

Dr. Zycha:
Darf ich jetzt in diesem Zusammenhang, nachdem sie jetzt das Stichwort geliefert haben, auf ein Thema, auf einen Punkt kommen, der heute überhaupt noch nicht diskutiert worden ist, nämlich: Was ist das Wesen der Krankheit? - Das wird naturwissenschaftlich nicht diskutiert und ,,Die Naturwissenschaft``, wie Weizsäcker sagt, ,,beschäftigt sich nicht mit den Fragen nach dem Wesen der Dinge, mit denen sie umgeht``. Aber ich meine, das ist jetzt äußerst wesentlich, daß man einmal darüber nachdenkt. (Ich habe dazu meinen Vorschlag.) Ich will es zunächst nur einmal als Frage formulieren, daß man überhaupt darüber nachdenkt: Was ist das Wesen von Krankheit gegenüber Gesundheit?

Prof. Sich:
Da meine ich, daß diese Frage nicht unabhängig von einer Kenntnis des entsprechenden kulturellen Kontextes beantwortet werden kann.

Dr. Zycha:
Doch! Auf einem anderen Niveau, einer anderen Ebene können wir es unabhängig davon beantworten. Wenn man das kybernetisch faßt, dann hat das zunächst mit Kultur nichts zu tun. So meine ich das.

Prof. Sich:
Ich verstehe, aber ich glaube, das wird jetzt zu ...

Prof. Demling:
Man kann doch Krankeit einfach so definieren, daß man sagt, wenn sich einer nicht wohlfühlt, dann ist er krank.

Dr. Zycha:
Das ist viel zu wenig.

Prof. Schott:
Denken Sie an psychiatrische Patienten!

Prof. Demling:
Ja, das ist nicht das ausschließliche Kriterium. Der psychiatrische Patient fühlt sich unter Umständen wohl, und seine Umgebung stellt fest, daß er krank ist ...

Prof. Schott:
... fühlt sich unwohl.

Prof. Demling:
Das ist richtig. Unwohlsein ist nur ein Kriterium, aber das wesentliche.

Prof. Schott:
Aber denken Sie an das Röntgenbild, wo der Krebs feststeht, und der Patient fühlt sich sehr wohl dabei.

Prof. Demling:
Ein Wort nur noch, weil Sie gesagt haben ,,Röntgenbild``. Wir haben natürlich mit unseren naturwissenschaftlichen Mitteln im Vorfeld schon etwas zu diagnostizieren, was dem Patienten eines Tages zum Unwohlsein verhilft.

Dr. Derbolowsky:
Da darf ich ergänzend hinzufügen, daß ich vor einigen Tagen mit einem erfahrenen Ordinarius gemeinsam im Zug gefahren bin. Er sagte mir im Verlauf des Gesprächs: ,,Was machen wir eigentlich in der Medizin? Da kommt so ein Mann zu mir in die Sprechstunde. Er fühlt sich wohl und gesund und sagt: Sehen Sie einfach mal nach, damit auch wirklich nichts ist. Und ich muß ihm nach der Untersuchung eröffnen, daß er Krebs hat. Von dem Moment an ist aus diesem sich gesund und wohl Fühlenden ein Sterbenskranker geworden.`` Ich meine, daß dies ein Thema ist, das zu erörtern jetzt ansteht und sich vom Sinn her in unsere Diskussion einfügt.

Prof. Volkmann:
Zur Kulturabhängigkeit, meine ich, kann man sich doch wohl verständigen. Der Umgang mit einer Krankheit, und wenn sie organisch auch identisch sein mag, fällt bei zwei Menschen sehr verschieden aus, je nachdem, welchem Kulturkreis sie angehören. Das weiß man auch auf anderen Gebieten. Wir wissen es auf pädagogischem Gebiet: Wenn jemand Chemie unterrichten soll in Ghana, muß er pädagogisch ganz anders vorgehen, als wenn das in Düsseldorf geschieht oder in Cambridge, also kulturelle Anpassung an die emotional und auch kognitive Auffassung des Menschen. Daß das kulturkreisabhängig ist, sieht man allein schon, wenn man die Krankheiten in Deutschland mit denen in der Schweiz vergleicht, wo das gewerkschaftlich anders geregelt ist. Es gibt doch bei uns Krankheiten, die epidemienhaft am Montag ausbrechen oder so, daß einer den Urlaub durch eine Krankheit mit der Kur verbinden möchte, oder umgekehrt. Das ist doch stark von den jeweiligen konkreten, auch sozialpolitischen Verhältnissen abhängig und mir scheint schon, das muß von einem, der die Krankheit heilen soll, erkannt und durchschaut werden.

Dr. Derbolowsky:
In Ihrem Statement haben Sie gefragt: ,,Wieso ist Gesundheit eigentlich erstrebenswert¿` Ist nicht eher krank zu sein, sozusagen als ,,soziale Errungenschaft`` anzustreben?

Prof. Demling:
Es gibt eine schöne Definition der Gesundheit: ,,Gesund ist, wer nicht genügend untersucht ist.``

Dr. Derbolowsky:
Führen wir die Menschen dahin?

Prof. Pietschmann:
Ich würde gerne zu Frau Sich noch etwas sagen. Ich habe das anders verstanden, was Sie gesagt haben, nämlich doch noch etwas tiefer - daß es eben bei dem Kranksein auf den kulturellen Hintergrund so sehr ankommt, daß jemand z. B. schon einfach aus dem Grund krank werden kann, weil er in eine andere Kultur versetzt wird. In Innsbruck an der Universität beschäftigt sich Herr Kofler ganz intensiv mit dem sogenannten ,,Sudden Unexpected Death Syndrom``, weil nämlich in Singapur unter den Thailändern, die dort einwandern, eine der häufigsten Todesursachen dieser von der westlichen Medizin ,,Sudden Unexpected Death Syndrom`` genannte Tod ist. Er führt das zurück auf den Kulturschock. Eine der fürchterlichsten Nachrichtenmeldungen des österreichischen Rundfunks, die mir im Gedächtnis geblieben ist, war - ich hab's im Taxi gehört -, daß der Gesundheitszustand der jungen Männer mit neunzehn Jahren sich in den letzten zehn Jahren deutlich verschlechtert hat, was man aus den Untersuchungen beim Militärdienst ableitet - ,,obwohl``, war dann der Nachsatz, ,,ein Teil dieser Verschlechterung auf die verbesserten Untersuchungsmethoden zurückzuführen ist``.

Dr. Derbolowsky:
Und damit kommen wir wieder zu den Ausgangsworten von Prof. Demling zurück und haben den Juristen mit im Spiel. Inwieweit bringt uns der Jurist dazu, so lange nach einer Pathologie zu suchen, bis wir etwas finden? Wird dadurch medizinisches Handeln (mit-)bestimmt?

Leider ist die Zeit jetzt so weit fortgeschritten, daß wir nur noch Zeit dafür haben, daß jeder aus seiner Sicht das bisher Gesagte zu einem ,,Beginnwort`` zusammenfassen kann, sozusagen als Ausblick und Anhalt dafür, wo wir weitermachen können und sollen. Ich habe bewußt nicht ,,Schlußwort`` gesagt, weil wir meiner Meinung nach im Vorangehen sind auf der Suche nach Auswegen aus der Medizinkrise. Trotzdem ist uns allen bewußt, daß wir mit dem Bisherigen noch am Anfang stehen. Es würde mich daher freuen, wenn wir jetzt kurz einen Ausblick wagen, für eine Fortsetzung unserer Runde.

Prof. Demling:
Für mich stellt sich die Frage für ein weiteres eventuelles Symposium, zu prüfen - jenseits aller Fragen nach Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft usw., wie es uns gelingt, demjenigen, der sich als Patient fühlt oder den wir aufgrund objektiver Befunde als Patienten ansehen müssen, besser und schneller zu helfen. Das ist die Kernfrage, um die es geht. Darauf sollte man sich ein bißchen mehr konzentrieren.

Dr. Zycha:
Ich meine, man sollte diese Untersuchungen auf mehreren Ebenen machen. Einmal ist es die detaillierte Ebene, daß man sich mit den persönlichen Fällen beschäftigt und da besser zu Rande kommt, zum anderen ist es die ideologische Ebene, die ganz tief unten irgendwo beackert werden muß, die langfristig zu einer besseren Orientierung führen kann. Auf diese zwei Ebenen kommt es an - nicht auf eine von beiden. Meine Ebene ist jetzt eben mal die da unten, die ideologische, die philosophische, aber die allein ist es natürlich auch nicht. Das ist die langfristige; die kurzfristige jedoch ist die individuelle, daß man eben unmittelbar schnell Abhilfe schafft. Also die zwei Ebenen müßte man diskutieren.

Prof. Schott:
Ich würde sagen, drei Dinge: die Sinnfrage (Wie können wir Krankheit sinnvoll erklären?), die Schuldfrage (Wer ist eigentlich schuld an dem oder jenem Krankheitsphänomen bzw. an der oder jener Krise?) und dann die Frage, was ist gut und böse bei der Bekämpfung der Krankheit, heiligt das Mittel den Zweck oder müssen wir gerade jetzt, z.B. im Hinblick auf Gentechnologie, nicht doch diese alte Frage nach Gut und Böse wieder in ganz neuem, modernen Kontext aufwerfen?

Dr. Eberl:
Ich möchte zum einen das unterstreichen, was bisher gesagt worden ist, und hervorheben, daß ich insbesondere den soziologischen Aspekt wichtig finde, aber auch noch hinzufügen, daß ich mir - das ist ein kleiner Teilaspket - vorstellen könnte, daß man klären sollte, was eigentlich unter nichtlinearem Denken verstanden wird, aus dem Kontext der medizinischen Problemstellung heraus, weil der Begriff ,,nichtlineares Denken`` eigentlich noch gar nicht richtig definiert ist. Die Chaosforschung steht ja sehr am Anfang, die Begriffe sind unklar. Vielleicht kann man dann, wenn man sie schon neu machen muß, auch so machen, daß sie für die Medizin verwendbar sind.

Dr. Mann:
Ich möchte gern in Ihr Horn hineinblasen und vorschlagen, daß man zuerst mal über den Sinn der Krankheit nachdenken müßte, bevor man weiterarbeitet und vielleicht auch in Verbindung bringen mit dem, was wir ,,Seele`` nennen. Diesen Begriff haben wir heute gar nicht gebraucht. Das könnte uns vielleicht einen Halt geben, ein Stück weiterzuarbeiten.

Prof. Volkmann:
Mir scheint als Themen für eine Fortsetzung haben sich heute morgen herauskristallisiert: Erstens, die Frage nach einem Minimalkonsens über eine zeitgerechte und zukunftsweisende medizinische Ethik - Minimalkonsens, weil kein Universal-/Globalkonsens möglich ist wegen unterschiedlicher glaubensmäßiger Grundeinstellung. Eine Minimalübereinstimmung, z.B. über die Liebe zum Menschen, Ehrfurcht vor dem Leben in neuer Bedeutung usw., erscheint denkbar, aber es könnte und sollte noch viel genauer gedacht und präzisiert werden. Zweitens: eine Neudefinition der Medizin in Wissenschaft und Praxis und zwar so, daß dies zur Überwindung des rein naturwissenschaftlichen Wahrheitsbegriffs beitragen kann. Es kam ja so viel Gutes heraus über die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Begegnung mit dem Menschen, die nicht nur auf den naturwissenschaftlichen Aspekt beschränkt sein darf. Gleichzeitig wurde doch von allen Seiten betont, die naturwissenschaftliche Denkweise ist zwar zu eng, aber sie darf nicht über Bord geworfen werden, nicht ein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als-auch. Worin dieses Als-auch besteht, könnte wohl noch weiter untersucht werden. Und dann sicherlich eine Rückbesinnung auf den Sinn des menschlichen Lebens in seiner umfassenden Bedeutung, soweit er heute in der Praxis unmittelbar angesprochen ist.

Prof. Pietschmann:
Ich bin mit beiden Vorrednern ganz einer Meinung, kann es daher kurz machen. Für mich ist auch die Sinnfrage die zentrale Frage. Nur, die ist natürlich zu groß, um sie als Thema für das nächste Symposium zu stellen. Deswegen meine ich auch, daß ein Ansatzpunkt wäre, zu fragen ,,Was ist der Sinn der Krankheit¿`. Friedrich Weinreb wurde schon erwähnt. Es gibt ein wunderschönes Buch, das heißt ,,Vom Sinn des Erkrankens``. Das wäre für mich ein wichtiger Punkt, und daß man in diesem Zusammenhang die Frage stellt, inwieweit die heutige Medizin der Tatsache Rechnung trägt, daß der Mensch die Einheit von Körper, Geist und Seele ist und inwieweit hier unter Umständen Defizite verbessert werden können.

Dr. Kieper:
Krankheit ist Versagen der Prävention. Krankheit überwinden geht nur, wenn Medizin als Kunst verstanden wird, unter Einbeziehung dynamischer Wissenschaftsmethodik und vor allen Dingen unter Einbeziehung wichtiger Denkweisen der anderen Fakultäten, vor allem - das ist meine persönliche Meinung - der Physik und der Theologie.

Prof. Schroeder-Kurth:
Mich würde ein Fortgang interessieren, mich ganz persönlich, über die Sinnfrage und Schuldfrage. Wenn ich dabei die Genetik einbringe, dann sind wir alle zur Zeit hilflos, und wir sind außerordentlich hilflos unseren Patienten gegenüber, wenn die Sinnfrage gestellt wird. Deswegen würde mich das sehr interessieren, um daraus dann auch Strategien für die Praxis zu entwickeln. Ich bin immer daran interessiert, auch wirklich praktische Ansätze zu gewinnen. Die Frage nicht was gut und böse ist alleine, sondern was wirklich dringlich ist, interessiert mich dabei.

Prof. Demling:
Darf ich noch ein ketzerisches Wort sagen? Da ist immer vom Sinn des Lebens und vom Sinn des Leidens die Rede. Wenn jemand furchtbar Zahnschmerzen hat und geht zum Zahnarzt, dann ist nämlich der Sinn des Lebens und des Leidens völlig egal!

Prof. Sich:
Ich weiß nicht, ob es möglich ist, von der Art Denken wegzukommen, durch das wir durch unsere eigene Gegenwartskultur geprägt sind. Ich habe in der Hinsicht vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Erfahrung keine Hoffnung, und das wäre also der Ausgang... Ich blicke aber offen und hoffnungsfreudig auf zukünftige Entwicklungen.

Prof. Staudinger:
Ich glaube, wir haben für die nächsten zehn Jahre genügend Fragen!

Dr. Derbolowsky:
Dem kann ich nur zustimmen. Liebe Teilnehmer, wir sind am Ende unseres heutigen Gesprächs angelangt. Für Ihre Offenheit und ebenso für Ihr aufgeschlossenes Eingehen auf die unterschiedlichsten vorgebrachten Aspekte, die aus dem jeweiligen Wissen der einzelnen Fachgebiete angeführt wurden, danke ich Ihnen sehr. Es ist dadurch meines Erachtens gelungen, uns dem gestellten Thema ,,Auf der Suche nach der Zukunft der Medizin`` von verschiedenen Ausgangspunkten her uns insoweit zu nähern, daß wir eine Reihe von Fragen herausgearbeitet haben, die als solche schon unser Denken befruchten und erweitern. Allerdings haben wir uns dafür erst einmal näherkommen müssen. Dies ist gelungen, so daß ich glaube, daß bei einer Fortsetzung dieser Diskussion noch mehr als heute bisher undenkbare Hypothesen entwickelt und auch noch mutiger geäußert werden, auch wenn sie, dem Betreffenden selbst vielleicht nicht schlüssig sinnvoll oder weiterführend genug erscheinen mögen. Wenn ich unsere Ausgangsbasis anschaue, so haben wir erstaunlich viel geschafft. Wir haben echte Interdisziplinarität im Sinne von Prof. Pietschmann gepflegt, indem wirklich miteinander geredet wurde, nicht nur im Sinne einer menschlichen, sondern auch einer fachübergreifenden Ebenbürtigkeit. Es ist deutlich geworden, daß wir freundschaftlich miteinander arbeiten können, auch wenn die (fachsprachlichen) Annäherungen ihre Zeit gebraucht haben. Wir haben uns so weit einander genähert, daß wir schon ein Stück weit Begriffe und fachspezifische Vorstellungen miteinander klären konnten. Die zum Schluß aufgeworfenen Fragen verdeutlichen, daß eine tragfähige Basis geschaffen worden ist, auf der die sicher divergierenden und problematischen Fragen nach dem Sinn und nach den individuellen Werten, sowie nach den Zusammenhängen von Körper, Seele und Geist, (ein mich persönlich besonders bewegendes Thema,) freundschaftlich und offen erörtern können, so daß es zu den erhofften Abenteuern und eventuell auch Schocks kommen wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die von Ihnen allen bewahrte große technische Disziplin im Verlauf der Diskussion danke ich Ihnen nochmals und freue mich schon jetzt auf das nächste Treffen. Den Zuhörern danke ich für ihre Teilnahme mit geduldiger Aufmerksamkeit.



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Wed Sep 21 08:46:15 CDT 1994