Chaos-Seminar an der Fachhochschule München
Wissenschaftliche Revolutionen bei Fleck und Kuhn
Marco Nübling
1. Einleitung
Unser Seminar trägt den Namen Chaostheorie - eine
wissenschaftliche Revolution? Bevor diese Frage möglicherweise
beantwortet werden kann, muß zunächst geklärt werden,
was sich hinter dem Ausdruck der wissenschaftlichen Revolution
verbirgt. Um sich diesem Thema zu nähern, sollen die Werke von
Ludwig Fleck Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen
Tatsache [1] und von Thomas S. Kuhn Die Struktur wissenschaftlicher
Revolutionen [2] miteinander verglichen werden.
Im dtv Brockhaus Lexikon findet man unter dem Stichwort Revolution
folgende Definition: "Revolution (spätlat., eigtl. Umdrehung)
... i.w.S. die Umwälzung von Bestehendem, z.B. der totale Bruch
mit überkommenden Wissensbeständen, kulturellen Wertsystemen
und politisch-sozialen Ordnungen. Der Begriff R. schwankt dabei
inhaltlich zwischen 'unaufhaltsamer Veränderung' und 'gewaltsamer
Umgestaltung' von Staat und Gesellschaft. Er steht damit i. Ggs. zu
allen Begriffen die das Element der 'Kontinuität' betonen,
bes. zu Evolution und Reform. ..."
Vor diesem Hintergrund soll untersucht werden, in wieweit man bei den
Ideen und Theorien von Fleck und Kuhn von einer wissenschaftlichen
Revolution sprechen kann.
2. Ludwig Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 1935
2.1 Kurzbiographie Ludwig Flecks
Ludwig Fleck wurde 1896 in Lwow als Sohn polnisch/jüdischer
Eltern geboren. Nach seinem Medizinstudium arbeitete Fleck u.a. an
der Universität in Lwow im Fachbereich der Bakteriologie. Seine
Hauptforschungstätigkeit befaßte sich mit der Entwicklung
eines Typhus-Impfstoffes. Zu den bedeutendsten Erkenntnissen Flecks
zählt sicherlich die Entdeckung des Phänomens der Leukergie:
der Nachweis sich verklumpender Leukozyten in Streß- und
Entzündungssituationen wurde Fleck zu Ehren nach ihm als
Fleck-Test benannt. Fleck war niemals
Nur-Mediziner. Grund dafür war sicherlich, daß Lwow
sehr interdisziplinär ausgerichtet war. Es gab mehrere
Universitäten, die regelmäßig Diskussionszirkel
veranstalteten, bei denen sich die Wissenschaftler der einzelnen
Gebiete trafen und ihre Ideen und Meinungen austauschten. Auch Fleck
nahm an diesen Diskussionszirkeln teil. Vor allem interessierte er
sich für die Philosophie, durch die er angeregt wurde, sich auch
mit der Wissenschaftstheorie eingehender zu befassen. Ludwig Fleck
verstarb am 5. Juni 1961 nach seinem zweiten Herzinfarkt in Ness-Ziona
(Israel).
2.2 Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv
Flecks Buch behandelt zwei Themenkomplexe: Zum einen zeigt er eine
Fallstudie aus der Medizingeschichte auf, nämlich die Entwicklung
des Syphilis-Begriffs. - Auf diesen Teil soll hier nicht näher
eingegangen werden. Zum zweiten untersucht er daraus
erkenntnistheoretische Folgerungen. Fleck prägt in seiem Buch
unter anderem den Begriff des Denkkollektivs. Darunter versteht
er die soziale Einheit der Gemeinschaft der
Wissenschaftler. Diese Gemeinschaft besitzt einen gemeinsamen
Denkstil, den Fleck als denkmäßige Voraussetzungen auf
denen ein Kollektiv sein Wissen aufbaut definiert.
2.2.1 Denkstil
Fleck behauptet, es gibt kein voraussetzungsloses Betrachten und
beobachten. Er unterscheidet zwischen dem unklaren
anfänglichen Sehen und dem entwickelten unmittelbaren
Gestaltsehen. Ersteres ist stillos, unorientiert und
chaotisch. Den größten Nachteil sieht Fleck darin,
daß bei anfänglichem unklarem Sehen die Tatsachen fehlen,
d.h. man weiß nicht, wonach man genau suchen/forschen soll. Im
Gegensatz dazu ist das Gestaltsehen wissenschaftlich orientiert; der
Forschende besitzt Ahnung von der Materie. Der Vorteil bei dieser
Beobachtungsweise ist die große Genauigkeit der
Betrachtungen. Nachteilig findet Fleck jedoch den Verlust der
Fähigkeit, Widersprüche zu erkennen. So entwickelt also
jeder seinen individuellen Denkstil, der zusätzlich durch die
soziologischen Einflüsse - wie in 2.2 beschrieben - geprägt
wird. Diese individuelle Sichtweise bringt der Wissenschaftler dann
in sein Denkkollektiv mit ein. Fleck beschreibt das Denkkollektiv als
eine Gruppe von Wissenschaftlern, die beispielsweise ein gemeinsame
Forschungsprojekt betreiben und somit eine einheitliche Grundlage/Idee
besitzen. Diese Idee wird im Verlauf der Forschung
modifiziert. Ansätze werden verworfen und durch neue ersetzt. Und
am Ende des Entwicklungssprozesses, wie Fleck es nennt, kommt dann
(hoffentlich) ein verwertbares Resultat heraus. Fleck sieht den
Forschungsgang als Zick-Zack-Linie von Zufällen, Irrwegen und
Irrtümern.
2.2.2 Weiterentwicklung eines Denkstils
Fleck beschreibt weiterhin in seinem Buch, daß sich ein Denkstil
auf drei verschiedene Arten weiterentwickeln kann, und zwar durch:
- Denkstilergänzung
- Denkstilerweiterung
- Denkstilumwandlung
Er spricht jedoch auch ein großes Hemmnis für die
Weiterentwicklung eines Denkstils an. Fleck nennt es die
Beharrungstendenz des Denkkollektives: Es fällt schwer,
völlig neue Ideen in den Denkstil zu integrieren, wenn dadurch
bisher geltende Regeln verletzt oder gar widerlegt werden. Fleck
veranschaulicht mit Zeichnungen aus verschiedenen wissenschaftlichen
Büchern, wie die Zeichner unwichtige Details weggelassen haben,
die sich nicht mit dem damals vorherrschenden Denkstil vereinbaren
ließen. Trotzdem sieht Fleck den Denkstil eines
jeden Kollektives einer ständigen Entwicklung unterworfen. Wie
kann es dazu kommen?
2.2.3 Denkkollektiv
Fleck sieht das Denkkollektiv der Wissenschaftler als einen
esoterischen Zirkel an, der sich mit einem Problem befaßt. Um
den esoterischen Zirkel herum ist die exoterische Umwelt
angesiedelt. Zwischen dem Denkkollektiv und der Umwelt kommt es zu
einem Informationsaustausch: die Wissenschaftler veröffentlichen
ihre Forschungsergebnisse oder setzen sich mit anderen Denkkollektiven
auseinander. Durch diese Kommunikation mit der Umwelt erfährt das
Denkkollektiv stets neue Anregungen und Ideen, die natürlich auch
den kollektiveigenen Denkstil neu prägen und verändern
können.
Fleck stellt fest, daß es bei der Kommunikation Probleme
auftreten können. Beispielsweise müssen
Forschungsergebnisse, wenn sie der breiten Öffentlichkeit
vorgestellt werden sollen, in einer nichtwissenschaftlichen,
einfacheren Sprache abgefaßt sein, damit sie auch der Laie
entsprechend verstehen kann. Dabei kann es selbstverständlich zu
Mißverständnissen kommen. Fleck verwendet hierfür den
Begriff der Bedeutungsverschiebung. Er sieht darin eine positive
Funktion für die Wissenschaftsentwicklung, da durch
Mißverständnisse neue Erkenntnisse auftreten können,
die bei normaler Forschungstätigkeit u.U. nicht einmal in
Erwägung gezogen oder bedacht worden wären.
Fleck weißt jedoch auch darauf hin, daß im Extremfall
jegliche Kommunikation unmöglich werden kann, wenn durch die
Bedeutungsverschiebung plötzlich jegliche gemeinsame Grundlage
für eine Kommunikation/Diskussion entzogen wird: "Worte
können nicht übersetzt werden, Begriffe haben nichts
Gemeinsames mit den unseren."(S.185) Dieser Aspekt wird weiter unten
bei Kuhns Inkommensurabilitätsbegriff noch näher beleuchtet.
3. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher
Revolutionen, 1962
3.1 Kurzbiographie Thomas S. Kuhns
Thomas S. Kuhn, geboren 1922, ist Professor für
Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte in Princeton. Kuhn
war Student der theoretischen Physik. Neben diesem Studium widmete er
sich mit großem Interesse der Philosophie der Wissenschaft. Die
Gelegenheit, sich näher mit dieser Materie auseinanderzusetzen,
bot sich ihm während der Jahre als Juniormitglied der Society
of Fellows der Harvard University. Dabei wurde er unter anderem
auch mit Ludwig Flecks Werk Entstehung und Entwicklung einer
wissenschaftlichen Tastsache konfrontiert, das Kuhn als eine
Arbeit beschreibt, "die viele meiner eigenen Gedanken vorwegnimmt".
1951 erhielt Kuhn vom Lowell Institute in Boston die Einladung,
Voträge über The Quest for Physical Theory zu
halten. Die folgenden zehn Jahre war er am Lehrstuhl für
Wissenschaftsgeschichte tätig. In dieser Zeit entstand sein Werk
Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, auf das im
Folgenden näher eingegangen werden soll.
3.2 Paradigma
Thomas S. Kuhn's These lautet: Fortschritt in der Wissenschaft
vollzieht sich nicht durch kontinuierliche Veränderung, sodern
durch revolutionäre Prozesse; ein bisher geltendes
Erklärungsmodell wird verworfen und durch ein anderes
ersetzt. Diesen Vorgang bezeichnet sein berühmt gewordener
Terminus Paradigmenwechsel.
Kuhn definiert den Begriff Paradigma auf zweierlei Art:
- allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen liefert
- konkrete Problemlösungen
Die erstgenannte Definition entspricht in etwa Flecks Begriff des
Denkstils. Die zweite geht etwas darüber hinaus. Kuhn sieht darin
eine Form der Einübung von Problemen, die dann auf neue, noch
unbekannte Aufgabenstellungen übertragen werden kann. Eine
weitere Ähnlichkeit zwischen Kuhns und Flecks Thesen ist Kuhns
Begriff der wissenschaftlichen Gemeinschaft.
3.3 Wissenschaftliche Gemeinschaft
Kuhn definiert die wissenschaftliche Gemeinschaft wie folgt:
Fachleute eines wissenschaftlichen Spezialgebietes. Als Kennzeichen
dieser Gemeinschaft sieht Kuhn, daß die ihr angehörenden
Wissenschaftler die gleiche Ausbildung erfahren , die gleiche
Fachliteratur gelesen, und somit auch größtenteils die
gleichen Erkenntnisse daraus gezogen haben.
3.4 Inkommensurabilität
Zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Gemeinschaften kann es nach
Kuhn auch zu einem Konflikt kommen: Beide Gemeinschaften befassen sich
mit derselben Materie und treten somit in Konkurrenz zueinander. Dabei
wird an der gleichen Sache geforscht, jedoch entwickeln sich schnell
unvereinbare Standpunkte, da sich die Paradigmen der einzelnen
Gemeinschaften unterscheiden. Es entsteht ein Herrschaftsstreit aus
dem nur eine wissenschaftliche Gemeinschaft als Sieger hervorgehen
kann, die dann ihre Forschungen esoterisch (vgl. Fleck)
weiterführt. Kuhn setzt sich weiterhin mit der Frage
auseinander, wie es zu diesen unvereinbaren Standpunkten kommen
kann. Er sieht hier, ähnlich wie Fleck, ein Kommunikations-
bzw. Verständnisproblem. Auch Kuhn sieht die Gefahr, daß
u.U. jegliche Kommunikation unmöglich wird. Er spricht dann von
sogenannten inkommensurablen Standpunkten.
Liegt diese Inkommensurabilität vor, so ist es nicht
möglich, den Konflikt durch Anwendung der Logik zu
lösen. Nutzt man die Methoden der Logik, gibt es festgelegte
Prämissen und Schlußfolgerungen. Die streitenden Parteien
können die Denkschritte des Kontrahenten nachvollziehen, bis
einer zugeben muß, daß er einen Fehler gemacht hat,
daß er gegen eine anerkannte Regel verstoßen hat
(vgl. Postskriptum 1969, S.210).
Erkennen jedoch beide Parteien, daß sie eine
unterschiedliche Basis besitzen, d.h. daß sie über die
Bedeutung oder Anwendung vereinbarter Regeln unterschiedlicher Meinung
sind, so bleibt, Kuhns Ansicht nach, ein einziges Mittel übrig:
die Überredung; den anderen zu überzeugen, daß die
eigene Meinung die einzig richtige ist. Kuhn sieht die
Überredung "als Vorspiel zur Möglichkeit des Beweises"
(Postskriptum 1969, S.210). Als Beispiel für die
inkommensurablen Standpunkte nennt er das Auge. Zwei Menschen
können genau das Gleiche sehen. Die Reize sind also
identisch. Wie das Gesehene jedoch in jedem Menschen verarbeitet wird,
wie er also darauf reagiert, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Die
Auswirkungen auf gleiche Reize sind daher unterschiedlich.
Eine Lösungsmöglichkeit sieht Kuhn in der
Übersetzung. Der einen wissenschaftlichen Gesellschaft muß
deutlich gemacht werden, was die Worte der anderen bedeuten. Nur so
kann eine gemeinsame Basis geschaffen werden.
3.5 Paradigmenwechsel
Schafft es nun die eine Gemeinschaft, die Ideen und Vorstellungen der
anderen zu verstehen oder zumindest nachzuvollziehen, so kommt es zu
einer, wie Kuhn es nennt, Nervenneuprogrammierung. Kuhn
bezeichnet diesen Wandel außerdem mit dem Begriff der
Konversion, d.h. das Padradigma der anderen Gemeinschaft wurde
übernommen. Dieser Übergang ist für den einzelnen nicht
willentlich nachvollziehbar. Er stellt irgendwann fest, daß die
Konversion stattgefunden hat. Das neue Paradigma ist nach der
Konversion so verinnerlicht, daß das alte nun keine
Gültigkeit mehr besitzt. Kuhn vertritt die Auffassung, daß
zwei Paradigmen nebeneinander unerträglich sind.
Somit hat also für eine der streitenden Gemeinschaften ein
Paradigmenwechsel stattgefunden. Kuhn beschreibt diesen Wechsel als
einen sehr schnellen Vorgang. Eine Gemeinschaft hält zwar sehr
lange an ihrem alten Paradigma fest. Ist jedoch der Punkt der
Konversion erreicht, an dem das eigene Paradigma plötzlich
zugunsten des neuen an Bedeutung verliert, spielt sich dieser
Gestaltwandel sehr rasch ab.
Kuhn spricht hierbei von revolutionären Vorgängen - das
eigene Paradigma, was bisher Grundlage sämtlicher
Wertvorstellungen der wissenschaftlichen Gemeinschaft war, wird
plötzlich aufgegeben, um einer oft völlig neuen Anschauung
zu weichen.
4. Schlußbetrachtung
Zunächst sollen kurz die Gemeinsamkeiten der Auffassungen von Fleck und Kuhn durch Aufzeigen der Schlagworte in tabellarischer Form dargestellt werden:
+------------------------+--------------------------------+
| Fleck | Kuhn |
+------------------------+--------------------------------+
| Denkkollektiv | wissenschaftliche Gemeinschaft |
| Denkstil | Paradigma |
| Denkstilentwicklung | Paradigmenwechsel |
| Kommunikationsprobleme | Inkommensurabilität |
+------------------------+--------------------------------+
Abschließend soll noch einmal auf folgende Frage eingegangen
werden: Kann bei den Ausführungen von Fleck und Kuhn von
wissenschaftlicher Revolution gesprochen werden?
Bei Kuhn ist diese Frage nahezu ohne Einschränkung zu bejahen. Er
sieht den Paradigmenwechsel als eine schnelle, drastische
Veränderung bisher bestehender Auffassungen und Anschauungen
einer wissenschaftlichen Gemeinschaft. Er benutzt hierbei mehrfach den
Begriff der Revolution. Fleck hingegen sieht eine
Denkstiländerung mehr als einen kontinuierlichen
Prozeß. Er spricht von temporärer Entwicklung, Mutationen
einer gemeinsamen Ur- oder Präidee und von unterschiedlichen
Interpretationsweisen. Bleibt festzuhalten, daß beide Autoren
sehr viele Gemeinsamkeiten in ihren Ansätzen und Denkmustern
erkennen lassen, auch wenn sie dabei oft verschiedene Fachtermini
benutzen.
Diese Ausführungen sollen genügen, um sich eingehender mit
der zentralen Frage unseres Seminars Chaostheorie - eine
wissenschaftliche Revolution? auseinandersetzen zu können.
Literaturverzeichnis
[1] Ludwig Fleck.
Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache.
Suhrkamp, 1994.
[2] Thomas S. Kuhn.
Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen.
Suhrkamp 1976.
Marco Nübling, 1994-06-01