Chaosforschung und Computernetze

Nichtlineare Modelle gibt es seit weit über hundert Jahren. Die berühmtesten Beispiele nichtlinearer Differentialgleichungen stammen alle aus dem letzten Jahrhundert: Planetenbewegungen, Helmholtz-Oszillator, Doppelpendel. 1918 gesellte sich der Duffing-Oszillator dazu, 1927 der van der Pol-Oszillator und später dann Lorenz- und Rössler-Attraktor und wie sie alle heißen mögen. Ähnliches gilt auch für diskrete nichtlineare Systeme (Mandelbrot-Menge, Hénon-Attraktor, etc.), wobei hier zunächst unklar war, welche Bedeutung diese Systeme außerhalb der Modellwelt haben sollten.

Einen großen Teil der Arbeit investierten Mathematiker und Physiker, den Gleichungen die Nichtlinearität irgendwie wieder auszutreiben, was dann in dem Spruch gipfelt: "`Ein nichtlinearer Effekt gilt dann als verstanden, wenn es gelingt, ihn geeignet zu linearisieren."' In der Tat lassen sich fundamentale Begriffe der nichlinearen Dynamik wie der Lyapunov-Exponent oder das Feigenbaumszenario als gelungene Linearisierung der Nichtlinearität verstehen.

Die Linearisierung hat in der Physik so große Tradition, daß manchen Physikern Aussagen über nichtlineare Systeme suspekt erscheinen, die nicht durch Linearisierung gewonnen wurden. Oft fehlt den Aussagen dann auch die exakte mathematische Beweisbarkeit, weil eine ganze Batterie von mathematischen Lehrsätzen versagt, wenn man das lineare Territorium verläßt.

So läßt es sich dann auch erklären, daß nichtlineare Systeme erst dann interessant wurden, als Computer die Gleichungen näherungsweise lösen und das Ergebnis grafisch darstellen konnten. Die Entwicklung schnellerer Computer machte dann auch die Regelung und Steuerung von dynamischen Systemen mit nichtlinearen Reglern bzw. aperiodischen Steuerkräften möglich. Damit konnten ganz neue Bereiche von Original- und Wunschdynamiken erschlossen werden. Das geht auch dann, wenn die Dynamik nicht "`lösbar"' ist im Sinne eines Lehrbuchbeispiels und "`nur"' auf dem Computer simuliert werden kann. In den meisten Anwendungsfällen spielen die Rundungs- und Verfahrensfehler des Computers keine wesentliche Rolle.

Doch wie sieht nun die Arbeit eines Chaosforschers am Computer aus? Sitzt er nur da und malt bunte Bilder aus nichtlinearen Gleichungen? Chaosforschung ist m.E. undenkbar ohne die Zielsetzung, reale dynamische Systeme effektiv zu modellieren, um globale Aussagen über das System treffen zu können oder um Steuerkräfte oder Kurzzeitvorhersagen auszurechnen. Das Wissen über das Verhalten und die Eigenschaften der realen Systeme liegt aber nicht bei den Mathematikern und Informatikern, die die nichtlinearen Modelle beherrschen, sondern bei den Fachleuten aus allen möglichen anderen Disziplinen. Der Chaosforschung fällt die Rolle zu, die traditionell die Mathematik eingenommen hat: Ermitteln von allgemeinen Aussagen über quantitative Beschreibungen.

Anders als in der Mathematik, die zunächst relativ zweckfrei forscht, hatten die Chaosforscher aber von Anfang an viel stärker den Anspruch, bessere Beschreibungen für reale Systeme zu verwenden und zu beherrschen als die alten, linearen Modelle. Dann dürfen sie natürlich auch nicht ihre Erkenntnisse verstecken, sondern müssen sie messen an den Anwendungen.

Demnach besteht für den Chaosforscher ein viel höherer Bedarf an effektiver Kommunikation mit Wissenschaftlern anderer Fachrichtungen. Dies umfaßt nicht nur die Verständigung über neue Ideen, sondern auch die Übermittlung von Meßreihen, Parametern, Schemazeichnungen, schnellen Zugriff auf Literatur, Tagungsankündigungen, OnLine-Diskussionen, Programmsammlungen und sonstige Datenbanken.

Dem Austausch der Informationen durch Versenden von Disketten weit überlegen ist die Anbindung an das weltweite Internet. Damit stehen dem Benutzer u.a. folgende Dienste zur Verfügung:

telnet
ermöglicht das online-Arbeiten auf einem entfernten Rechner, sofern dieser Multi-User-fähig ist. Es muß sich aber nicht unbedingt um ein Unix-System handeln.
Electronic Mail
Dieser Dienst versendet 7-bit-ASCII-Texte (also reine Texte, ohne Umlaute und binärcodierte, satztechnische Informationen) rund um die Welt. Bilder, Töne und andere binäre Daten können übertragen werden, in dem man sie vorher konvertiert (Eine NeXT macht das automatisch, aber der Empfänger muß dann auch eine NeXT haben).
ftp
Weiß man, auf welchem Verzeichnis auf welchem Rechner eine Datei liegt, die man benötigt, so ist ftp effektiver als mail, weil es nicht notwendig ist, daß der Absender in Aktion tritt. Öffentliche Dateien kann man auch ohne Kenntnis eines speziellen Passworts holen, wenn man sich als anonymous einloggt und seine Emailadresse als Passwort benutzt. Möglich ist binärer Filetransfer (entspricht einer 1:1-Übertragung) oder Übertragung im ASCII-Modus. Letzterer ist meist Voreinstellung (Vorsicht !) und erledigt automatisch die Konversion verschiedener Darstellungen des Zeilenendes (Unix: nur Linefeed, MS-DOS/Atari: Carriage-Return und Linefeed, Mac: nur Carriage-Return). Sucht man ein bestimmtes File, kann man mit Hilfe eines Archie-Servers herausfinden, wo in der Welt dieses liegt.
News
Während man mit mail auch intime Informationen versenden könnte, weil die Briefe durch das eigene Passwort einigermaßen geschützt sind, dient News als Pinwand für offene Briefe. Eingeteilt in Hunderte von sog. Newsgroups findet man neben öffentlichen wissenschaftlichen Diskussionen und Ankündigungen auch Anzeigen von Leuten, die ihren Computer verkaufen wollen oder eine Wohnung suchen.
Gopher und World Wide Web
Im Gegensatz zu News enthalten Gopher und World Wide Web keine Privatanzeigen, sondern nur Informationen, die von den an diesen Netzdiensten beteiligten Institutionen bereitgestellt werden. Im Gopher findet man aktuelle Fahrpläne, aber auch Literatur und vieles mehr. World Wide Web ist noch etwas komfortabler, weil es auf Hypertext basiert und deshalb Grafiken integrieren kann. Momentan finden sich im WWW vor allem Beschreibungen von Institutionen; es bietet damit eine Möglichkeit, email-Adressen oder Telefonnummern von Instituten zu ermitteln.
remote shells
Mit remote shells kann man einzelne Prozesse auf andere Rechner auslagern und dadurch ein Workstation-Netz effektiv beschäftigen. Es muß dann auch nicht jedes Programm, das man benutzen möchte auf jeder Maschine installiert sein. Momentan laufen remote shells allerdings nur in Zusammenhang mit UNIX als Betriebssystem.

Unheimlich hinderlich wirkt sich aus, wenn die Daten in Formaten gespeichert sind, die an einzelnen Rechnern nicht dekodierbar sind. Je nach Menge und Wichtigkeit der Daten wird man sich auf die Suche nach einem Konversionsprogramm machen oder auf die Daten verzichten. Oft könnte man sehr schnell ein Konversionsprogramm schreiben, wenn das vorhandene Format nicht zu kompliziert ist und Dokumentationen über die Dateistruktur zugänglich sind. Dies ist bei kommerziellen Programmen aber meist nicht der Fall. In bezug auf Austauschbarkeit ist deshalb immer den Universitätsprodukten und GNU-Software der Vorzug zu geben, zumal diese Programme kostenlos für alle Wissenschaftler zur Verfügung stehen und auf den meisten Rechnertypen laufen. Da alle diese Programme über Archie lokalisierbar, über ftp kopierbar und meistens relativ leicht installierbar sind, kann den Benutzern von vernetzten Rechnern auch zugemutet werden, diese Programme zu benutzen. Das wird auch bereits von einem Großteil der Leute betrieben, die Daten oder Fachartikel über News oder ftp anbieten.

Ich plane, im Sommer einen Kurs über all diese Informationsdienste zu organisieren. Wer sich dafür interessiert, soll sich jetzt schon melden und angeben, wann er Zeit hätte und wieviel Stunden er dafür investieren möchte. Wer für wissenschaftliche oder private Zwecke einen Zugang zu den Systemen braucht oder per Modem zuhause einen Anschluß realisieren möchte, soll sich mit seinen Fragen vertrauensvoll an mich wenden.

Manchen mag vielleicht die Vielzahl der Computer-Fachbegriffe abschrecken, aber ich denke, daß der Aufwand, sich diese Kenntnisse anzueignen, auf alle Fälle lohnt, weil der Informationsaustausch viel zu träge und einseitig wäre, wenn man sich nur auf die Literatur von einzelnen Zeitschriften konzentrieren und sich ab und zu am Stammtisch austauschen würde. Die Komplexität des zur Benutzung der Computernetze notwendigen Wissens ist im übrigen verschwindend im Vergleich zu der des Wissens, das man braucht, um gute Modellbildung machen zu können.

Schließlich spielt sich Chaosforschung im wesentlichen am Computer ab: Simulation, Modellierung und Charakterisierung von Zeitreihen oder Strukturbildung, sowie das Abfassen der Fachartikel sind sowieso ohne den elektronischen Rechenknecht undenkbar. Warum also nicht auch noch kommunizieren, wenn man ohnehin davorsitzt?

Werner Eberl, veröffentlicht in: Chaotische Nachrichten 30 (Juni 1994)