Die Bedeutung der Kultur für die Ausübung jeglicher Form von Medizin
Die Problemlage: Die kulturelle Konnotation in der medizinischen Versorgung
Ein Denkfehler in der Einschätzung des ,,kulturellen Faktors`` in der Medizin und seine Ursachen
Angesichts dieser Sachlage wird heute der ,,kulturelle Faktor`` in der Medizin von zunehmendem Interesse. Er wird in erster Linie als ein Hindernis für moderne Gesundheitsversorgung verstanden, das überwunden werden sollte. Diese Haltung beinhaltet einen grundsätzlichen und gefährlichen Denkfehler. Er ist innerhalb der Medizin (jeglicher Provenienz) schwer zu thematisieren und noch schwerer zu überwinden.
Grund dafür ist unsere unbewußte Blindheit - und damit die Unterschätzung - gegenüber der gewaltigen Rolle der Kultur bei der Bewältigung von Lebensproblemen. Individuen und Allgemeinheit handeln individuell und gemeinschaftlich bei der Bewältigung von Lebensproblemen und kulturellen Vorgaben (Kulturmustern), die habituell erworben wurden, und daher weitgehend unbewußt bleiben. Erkrankung ist ein solches Problem. Solange der Arzt und Patient bzw. Heiler und Klient in ihrer Interaktion von gemeinsamen kulturellen Vorgaben Gebrauch machen, gibt es kein kulturelles Problem. Normalerweise sind Arzt und Patient, sowie Heiler und Klient, Mitglieder des gleichen Kulturkreises. Probleme treten auf, wenn in der Interaktion die Partner unbewußt auf dem Hintergrund unterschiedlicher Kulturmuster verstehen und agieren. Wenn dann vom Arzt unbekannte Kulturmuster entwertet werden, die Grundlage für die Krankheitsbewältigung des Patienten sind, entstehen ,,Coping``-Probleme.
Der grundlegende Denkfehler in der Medizin liegt in der Tatsache, daß dieses Problem nur beim Patienten gesehen wird. Diese Einstellung ist falsch. Jegliche Medizinform, d. h. auch die ,,moderne`` Medizin ist von der Kultur abhängig. Oder: Jegliche Medizinform, auch die moderne Medizin, ist in ihrer Konzeption und Ausübung eine von der Kultur abhängige Variable. Damit wird das Gelingen einer Behandlung, also von Heilung, auch eine Sache der kulturellen Ökologie. Die Qualität des Handlungsfeldes bestimmt weitgehend die Voraussetzung für Genesung. Der Therapeut hat darauf maßgeblichen Einfluß. Auch wenn er sich nicht seines Einflusses bewußt ist, ändert dies nichts an der Tatsache, daß er auch schaden kann.
Grundkonzepte für eine angemessene Einschätzung der medizinischen Bedeutung der Kultur
Für eine angemessenere Einschätzung dieses Sachverhalts in der interdisziplinären Diskussion (und für sachdienlicheren Zugang in der Praxis) müssen interdisziplinär ausreichend fundierte und akzeptierte Grundkonzepte vorhanden sein.
In der Kulturvergleichenden Medizinischen Anthropologie wurden dazu Grundkonzepte erarbeitet.
Diese sechs Grundkonzepte sind im folgenden:
1. Der Kulturbegriff, einschließlich des Konzepts kultureller Funktionssysteme, und im Zusammenhang damit - der Begriff der Lebenswelt.
2. Das Konzept der Medizin als einem ,,kulturellen Funktionssystem``, wie es auch Sprache, Religion und Familie darstellen.
3. Das Konzept von unterschiedlichen Ebenen der wissenschaftlichen Dokumentation, Analyse und Interpretation medizinischer Probleme.
4. Die kulturelle Vieldeutigkeit des Krankheitsbegriffes und die Bedeutung von ,,Kranksein`` in der Kulturvergleichenden Medizinischen Anthropologie.
5. Heilen als übergeordnete Funktion kultureller Medizinsysteme und als kultureller Prozeß. ,,Coping`` als adaptives Verhalten.
6. Kulturelle Dissoziation, die in Folge eines Medizintransfers auftreten kann.
Anmerkungen:
D. Sich: Die medizinische Bedeutung der Kultur, (Dt. Ärzteblatt, 87, 46, 3599). D. Sich: Der Kultur-Begriff, einschließlich des Konzepts kultureller Funktionssysteme, und im Zusammenhang damit: Der Begriff der Lebenswelt, (In: Medizin und Verhalten, Hrsg. D. Sich, H.J. Diesfeld, A. Deigner, M. Habermann), Peter Lang Verlag, Frankfurt.